Das Flüstern der Toten (German Edition)
»Na ja, ich wurde, man könnte sagen entführt, das heißt, nicht eigentlich entführt, sondern mitgenommen.«
Ihre Hand fuhr zum Mund, um ein Stöhnen zurückzuhalten.
»Du lieber Himmel, dass klingt alles so furchtbar, wenn ich es laut ausspreche«, klagte ich. »Ich jammere mehr als ein Gruftie-Blogger. Dabei ist es eigentlich gar nicht so übel. Im Grunde hatte ich eine glückliche Kindheit. Jede Menge Freunde. Okay, die meisten waren tot, aber trotzdem.«
»Charley Jean Davidson«, sagte Cookie warnend. »Du kannst nicht von Entführung anfangen und dann nicht weitererzählen.«
»Na schön, wenn du es unbedingt genau wissen willst. Aber gefallen wird es dir bestimmt nicht.«
»Ich will’s aber genau wissen.«
Ich seufzte ausgiebig, dann sagte ich: »Es ist hier passiert.«
»Hier? In Albuquerque?«
»In diesem Gebäude. Und ich war vier.«
»Dann hast du früher schon mal hier gewohnt?«
Plötzlich kam ich mir vor wie in einer Therapiestunde. Alles, was mir in der Vergangenheit jemals begegnet war, Gutes wie Schlechtes, ergoss sich aus einer schwärenden Wunde. Was damals in diesem Gebäude geschah, gehörte allerdings zum Schlimmsten überhaupt. Ich dachte an das Messer, das so tief in mir steckte, dass ich zweifelte, ob man es je wieder ganz herausziehen konnte. Jedenfalls nicht ohne gründliche Betäubung.
»Nein«, erwiderte ich, trank noch einen Schluck, genoss die köstliche, warme Schokolade auf der Zunge, ehe ich sie hinunterschluckte. »Gewohnt habe ich hier nicht. Doch hier verkehrten schon Polizisten, bevor mein Vater die Bar kaufte. Er hat mich ein paar Mal mitgenommen, ganz arglos natürlich, meistens zu Geburtstagsfeiern und dergleichen. Dabei musste er manchmal mit seinem Partner quatschen, wie das in den Achtzigern eben noch war.« Als Cookie fragend die Brauen schräg stellte, erklärte ich: »Als es noch keine Handys gab.«
»Ja, alles klar.«
»Aber einmal hab ich meine Stiefmutter in Rage gebracht, weil sie durch mich ziemlich beiläufig erfuhr, dass ihr Vater gestorben war. Ich sagte ihr nämlich, er sei durch mich hinübergegangen und habe mich gebeten, ihr etwas auszurichten. Das kam für sie völlig unerwartet. Sie wurde fuchsteufelswild und weigerte sich, mir zuzuhören. Sie wollte nicht mal was von einer Nachricht wissen. Ich verstand sowieso nicht, worum es dabei ging. Um blaue Handtücher oder irgendwas.«
»Und was war, nachdem sie erfahren hatte, dass er tatsächlich verstorben war?«
»Gar nichts. Zu der Zeit hat Denise alles verdrängt, was irgendwie mit dem Tod zu tun hatte.«
Um sich nicht aufzuregen, holte Cookie tief Luft. »Diese Frau setzt mich immer wieder in Erstaunen.«
»Da solltest du mal ihren Hackbraten probieren. Der lässt dir ein paar schöne krause Haare auf der Brust wachsen.«
Sie gluckste. »Na, vielen Dank, ich habe schon genug Haare überall. Den Familientag bei den Davidsons lasse ich lieber ausfallen.«
Ich zuckte die Achseln. »Selber schuld.«
»Gut, du warst also vier.«
Himmel, sie ließ einfach nicht locker. »Ja. Vier. Ich war wie üblich beleidigt, und als wir in die Bar fuhren, wo mein Vater ein Bier trinken wollte, ließ Denise mich dort auf der Küchenbank sitzen, um mich derweil bei meinem Vater anzuschwärzen. Ich hielt mich gerne in der Küche auf, aber ich war total sauer und gekränkt, also fiel mir ein, einfach abzuhauen. Als Mr Dunlop, der Koch, gerade nicht hinsah, schlich ich mich zur Hintertür raus.«
»Mit vier, spät abends, allein auf der Central? Der schlimmste Albtraum aller Eltern!«
»Ja, sicher, aber ich dachte, damit könnt ich’s ihr zeigen. Die hellste Vierjährige auf der Central war ich allerdings nicht. Ich hab’s mir in dem Moment, wo ich auf die Straße trat, anders überlegt. Angst hatte ich keine, ich bin nicht so ängstlich wie andere. Ich kam bloß, na ja, zur Besinnung. Doch bevor ich wieder hineinlaufen konnte, bot mir ein echt netter Mann im Trenchcoat seine Hilfe bei der Suche nach meiner Stiefmutter an. Bloß dass er komischerweise nicht mit mir in die Bar zurückging, sondern mich in dieses Gebäude mitnahm.«
»Oh, Schatz«, hauchte Cookie mitfühlend.
»Wo allerdings nicht viel passierte«, fuhr ich achselzuckend fort. »Wie gesagt, der Böse hat mir geholfen.« Und um die Sache ein bisschen herunterzuspielen: »Rückblickend glaube ich nicht, dass dieser Kerl mir wirklich helfen wollte, meine Stiefmutter zu finden.«
Cookie streckte die Hände nach mir aus und schloss mich
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