Das Flüstern der Toten (German Edition)
Cookie und starrte mit großen Augen auf einen anderen Artikel, den sie gerade in Händen hielt. Ich beugte mich zu ihr hin, wobei ich unter der schmerzhaften Bewegung zusammenzuckte, und musste mich sehr beherrschen, während ich den letzten Absatz überflog.
Onkel Bob war Chefermittler im Fall Reyes gewesen. Schöne Scheiße das.
11
Wenn mich nicht so viel ablenken würde,
hätte ich eine längere Aufmerksamkeitsspanne.
– T-Shirt-Aufdruck
Ich erwachte im ersten Morgengrauen, weil mich ein natürliches Bedürfnis aus dem Bett trieb. Allerdings fühlte ich mich seit meinem Sturz, als hätte ich eine Flasche Jack Daniels geleert.
Nachdem ich über einen Blumentopf gestolpert, mit dem kleinen Zeh gegen einen Tritthocker gestoßen und mit dem Gesicht voran gegen einen Türpfosten gerannt war, ließ ich mich auf der Toilette nieder. Gott sei Dank stand ich nicht darauf, mein Heim üppig zu dekorieren. Wenn sich noch etwas zwischen mich und den Porzellanthron gestellt hätte, hätte ich meinen nächsten Geburtstag womöglich nicht mehr erlebt. Während es im Hintergrund leise plätscherte, ging ich noch mal durch, was ich tagsüber alles abhaken wollte.
Dabei fiel mein Blick auf das Football-Trikothemd, das ich am Leib trug und einem Exfreund auf der Highschool geklaut hatte, einem blonden, blauäugigen Teufel, dem die Sünde im Blut lag. Er hatte sich schon während unserer ersten Verabredung mehr für die Farbe meiner Unterwäsche interessiert als für die meiner Augen. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich mich von Kopf bis Fuß in Türkis gehüllt. Komisch war bloß, dass ich mich nicht erinnern konnte, das Trikothemd gestern Abend angezogen zu haben. Aber ich konnte mich ja nicht mal erinnern, ins Bett gegangen zu sein.
Vielleicht hatte Cookie mir Rohypnol in meine heiße Schokolade getan. Darüber würden wir uns später unterhalten; fürs Erste musste ich mir darüber klar werden, wie ich den Tag nutzen wollte. Sollte ich meine Verpflichtungen gegenüber dem APD sausen lassen und mich stattdessen im Knast über Reyes erkundigen? Oder sollte ich meine sämtlichen APD-Verpflichtungen erst mal auf Cookie abwälzen und mich erst danach im Gefängnis über Reyes erkundigen?
Mein Herz raste beim bloßen Gedanken, ihm womöglich zu begegnen, auch wenn mich die Vorstellung zugegebenermaßen etwas nervös machte. Was, wenn mir nicht gefiel, was ich über ihn herausfand? Was, wenn er wirklich schuldig war? Ich konnte nur hoffen, dass seine Verurteilung auf einem großen Missverständnis beruhte. Dass man ihn irrtümlich angeklagt hatte. Dass die Beweise falsch ausgelegt, vielleicht sogar manipuliert worden waren.
Nach allem, was ich seit gestern Abend wusste – ich hatte jeden Artikel über den Fall und sogar einen Teil der von Cookie ausgegrabenen Prozessprotokolle gelesen – , reichten die vorliegenden Beweise für eine Verurteilung nicht aus. Trotzdem hatten ihn zwölf Menschen für schuldig befunden. Noch beunruhigender war der Umstand, dass die Misshandlungen, die er erlitten hatte, mit keinem Wort erwähnt wurden. Zählte es etwa nicht, wenn einen der eigene Vater fast totprügelte?
So gerne ich wieder schlafen gegangen wäre, so wenig Zweck hätte das gehabt. Meine Überlegungen würden mich wach halten, obwohl ich einen guten Grund hatte, mich noch mal ins Traumland zu begeben. Reyes war in dieser Nacht zum ersten Mal seit Monaten nicht zu mir gekommen. Hatte sich nicht mit seinen dunklen Augen und warmen Händen in meine Träume geschlichen, nicht mit Küssen mein Rückgrat nachgezeichnet oder sanft die Finger zwischen meine Beine geschoben. Und ich konnte nicht umhin, mich zu wundern, warum das so war. Hatte ich etwas falsch gemacht?
Mein Herz fühlte sich ausgehöhlt an. Ich hatte mich an seine nächtlichen Besuche gewöhnt, war beinahe süchtig danach. Sie waren mir wichtiger als mein nächster Atemzug. Vielleicht würde mein Besuch im Bau ein wenig Licht ins Dunkel bringen.
Beim Zähneputzen vernahm ich schlurfende Schritte aus der Küche. Während die meisten allein lebenden Frauen darüber erschrecken würden, verbuchte ich dergleichen lediglich unter Arbeitsplatzsicherheit.
Ich verließ das Bad und blinzelte ins grelle Licht. »Tante Lillian?«, fragte ich, humpelte zur Küchenbar und ließ mich auf einen Hocker gleiten. Tante Lillians Gestalt wurde von einem geblümten Muumuu verschluckt, zu dem sie eine Lederweste und Liebesperlen geradewegs aus den Sechzigern trug. Ich hatte all
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