Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
überlassen. So trägt er selbst Schuld an seinem verfrühten Tod. Dass er Holmes, diesen scheinheiligen Egomanen, mit sich in die Schlucht riss, beglückt mich zutiefst.
Er war mir schon immer ein Dorn im Auge. Ich erinnere mich an unser erstes Zusammentreffen im Kildare Street Club im Jahre 1873. Er war damals ein junger Student und auf dem Weg nach Oxford. Er und sein Bruder Mycroft, zu jener Zeit noch in Dublin Castle tätig, speisten zur selben Zeit im Club wie Moriarty und ich. Es gab ein lächerliches Missverständnis wegen des wertvollen Necessaires des verrückten alten Herzogs von Cloncury und Straffan. Holmes musste sich unbedingt einmischen, ein Umstand, der meinen Ausschluss aus dem Klub zur Folge hatte.
Das war keineswegs das letzte Mal, dass dieser kleine Gernegroß meine Pläne durchkreuzte, doch einmal, so kann ich nicht ohne Genugtuung berichten, habe ich diesen Dubliner Hanswurst überlistet. Ich habe bewiesen, dass ich ihm überlegen bin, aber leider hatte ich keine Gelegenheit, ihn vor seinem Tod wissen zu lassen, dass Sebastian Moran aus Derrynacleigh gescheiter ist als der angeblich beste Privatdetektiv Europas. Was würde ich nicht alles dafür geben!
Doch ich will Ihnen, mein lieber »Wolf Shield«, die Geschichte von Anfang an berichten, auch wenn ich weiß, dass sie Ihnen bereits weitgehend bekannt ist. Sie sind der einzige, dem ich sie erzählen kann – schließlich waren Sie es, der massgeblich zu ihrem Ausgang beigetragen hat.
Im November 1890 wurde Seine Eminenz, Kardinal Giacomo Tosca, der Nuntius von Papst Leo XIII., von Sir Gibson Glassford, einem Mitglied des britischen Kabinetts, tot in dessen Wohnung in der Gayfere Street unweit vom Westminster-Palast gefunden, genauer gesagt, im Bett. Die Nachricht erregte, wie Sie sich zweifellos erinnern werden, großes Aufsehen. Wie Sie wissen, stand Lord Salisbury einer konservativen Regierung vor, die dem Papst zu jener Zeit nicht
besonders zugetan war, hauptsächlich, weil man mit dem Katholizismus die irische Selbstverwaltungsbewegung verband. Im selben Monat war Parnell, trotz aller Bemühungen seiner Gegner, ihn in Misskredit zu bringen, erneut zum Vorsitzenden der Irischen Nationalpartei gewählt worden. Die Irische Nationalpartei hatte vier Fünftel aller irischen Sitze im Parlament in Westminster inne und bildete damit eine mächtige Opposition.
Was den Tod des Nuntius betraf, so kam es zu erneuten Spekulationen, als der hinzugezogene Arzt, ein Mann namens Thomson, sich weigerte, einen Totenschein auszustellen. Wie er der Polizei mitteilte, war er sich über die Todesursache unschlüssig und hielt die Begleitumstände für verdächtig. Dieselbe Meinung vertrat auch der amtliche Leichenbeschauer.
Die Aufregung, die daraufhin folgte, war außerordentlich. Die Klatschpresse fragte, ob der Kardinal ermordet worden sei, und, viel wichtiger noch, die Zeitungen der Tories und der Liberalen wollten wissen, ob die Regierung den Nuntius zum Unterhändler für irgendwelche Verhandlungen mit den irischen Katholiken bestimmt hatte.
Was hatte Kardinal Tosca überhaupt im Haus des konservativen Ministers Sir Gibson Glassford zu suchen gehabt? Als herauskam, dass Glassford ein entfernter Verwandter des irischen Vizekönigs, des Grafen von Zetland war, wurde noch heftiger spekuliert als zuvor, zumal Glassford zum linken Flügel der Tories gehörte und den Bestrebungen Irlands nach Selbstverwaltung, wie man wusste, durchaus wohlgesonnen gegenüberstand.
Sämtliche Vertreter der Tory-Partei, Lord Salisbury, Arthur Balfour, Lord Hartington, Joseph Chamberlain, um nur einige zu nennen, hatten sich der Union Irlands mit Großbritannien verschrieben und bei ihren Irland-Besuchen feierlich erklärt, dass sie es niemals zulassen würden, dass diese Union aufgelöst würde. Hatte es dennoch unter den Torys Verschwörer gegeben, die von diesem Grundsatz abweichen wollten? Immerhin war im Haus eines Tory-Ministers, der
Sympathien für Irland hegte, ein toter Kardinal gefunden worden. In der politischen Welt herrschte Verwirrung und Bestürzung.
Katholische Bischöfe in England bestritten, irgendwelche Kenntnis von Kardinal Toscas Aufenthalt im Land zu haben, und der Vatikan schickte ein Telegramm, in dem er ebenfalls beteuerte, dass er davon nichts wusste. Derartige Dementis dienten natürlich nur dazu, die Spekulationen über heimliche Verhandlungen weiter anzuheizen.
Was aber hatte Sir Gibson Glassford zu alledem zu sagen? Und damit komme ich zum
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