Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
nicht«, entgegnete er gereizt. »Lies die Stelle, wo du schreibst, dass ich im Jahre 1895 bemerkenswerte geistige und körperliche Kräfte mobilisiert habe.«
»Ich verstehe nicht.«
Er nahm mir die Zeitschrift aus der Hand und las übertrieben langsam und deutlich vor: »In jenem denkwürdigen Jahr, 1895, wurde seine Aufmerksamkeit von einer Folge seltsamer Ereignisse in Anspruch genommen, angefangen mit dem berühmten Fall des unerwarteten Tods von Kardinal Tosca, mit dessen Untersuchung er vom Papst höchstpersönlich betraut wurde …« Holmes hielt inne und schaute mich fragend an.
»Aber es ist wahr, dass der Fall berühmt war und dass der Papst ausdrücklich um deine Mithilfe bat«, protestierte ich. »Ich habe einige Zeitungsartikel aufgehoben …«
»Dann schlage ich vor, dass du dein Klatsch-und-Tratsch-Archiv gründlich sichtest«, versetzte er schroff.
Im Regal standen mehrere Bücher, in die ich Artikel klebte, die mit dem Leben und Wirken meines Freundes im Zusammenhang standen. Es dauerte einige Minuten, bis ich den Artikel fand, den die »Morning Post« über den fraglichen Fall abgedruckt hatte.
»Da haben wir ihn«, sagte ich triumphierend. »Der Fall des Kardinals Tosca.«
Holmes bedachte mich mit einem eisigen Blick. »Ist der Artikel mit einem Datum versehen?«, wollte er wissen.
»Selbstverständlich. November 1891 …«
»1891?«, wiederholte er gedehnt.
Ich begriff, welcher Fehler mir unterlaufen war. Als ich in meinem Bericht 1895 schrieb, hatte ich mich um vier Jahre geirrt.
Ich versuchte, mich zu verteidigen und sagte: »Das kann doch jedem passieren. Schließlich ist es schon lange her.«
»Für mich nicht«, widersprach Holmes mit grimmiger Miene. »In diesem Fall hat mein alter Gegenspieler eine entscheidende Rolle übernommen. Davon erfuhr ich allerdings erst, als er zu Beginn des Jahres 1894 in Polizeigewahrsam starb. Deshalb wusste ich sofort, dass du dich im Jahr geirrt hast.«
Stirnrunzelnd fragte ich: »Dein alter Gegenspieler? Wer ist das?«
Holmes sprang auf und ging hinüber zu seinem kleinen Tresor, einem Fabrikat der Firma Chubb, drehte am Zahlenschloss und entnahm ein Bündel Papiere.
»Dies« – er deutete mit dem Stiel seiner Pfeife auf das Bündel – »fand ich, als ich die Wohnung meines Widersachers nach dessen Tod durchsuchte. Es ist der Rohentwurf eines Briefs. Ob er abgeschickt wurde oder nicht, ist mir nicht bekannt. Vielleicht spielt es auch keine Rolle. Ich war froh, dass ich ihn entdeckte, bevor die Polizei eintraf. Sie hätte den Brief zweifellos veröffentlicht, oder, schlimmer noch, in die falschen Hände gegeben, ohne dass ich davon erfahren hätte. Dieses Schreiben ist eine Zusammenfassung meiner Fehler und Mängel, Watson. Du darfst ihn sehen, aber außer dir soll ihn niemand lesen, bis ich tot bin. Deponiere ihn meinetwegen auf der Bank, zusammen mit dem übrigen Gekritzel. Wenn ich unter der Erde bin und genügend Zeit vergangen ist, mag sich die Nachwelt mit diesen Zeilen befassen.«
Ich ließ mir den Brief geben und betrachtete die krakelige Handschrift. »Worum geht es?«, fragte ich verdutzt.
»Um die wahren Hintergründe von Kardinal Toscas Tod. Du warst so freundlich, diesen Fall zu meinen Erfolgen zu zählen. Der Brief wird dich eines Besseren belehren. Ich wurde komplett zum Narren gehalten vom Verfasser dieser Zeilen.«
Mir blieb der Mund offen stehen; möglicherweise sah ich ein wenig dümmlich aus. »Aber ich war doch damals dabei und weiß, dass du den Fall zur Zufriedenheit von Scotland Yard gelöst hast«, protestierte ich. »Wer …?«
»Colonel Sebastian Moran, jener Mann, von dem ich einmal sagte, er sei der zweitgefährlichste in ganz London. Er war mein Widersacher, und ich wusste es nicht einmal. Lies den Brief, Watson. Du sollst erfahren, wie fehlbar ich bin.«
Ich las:
Conduit Street Club, London W1
21. Mai 1891
Mein lieber »Wolf Shield«,
er ist also tot! Die Nachricht prangt auf sämtlichen Anzeigetafeln, man liest sie an jeder Straßenecke! Sein Freund Watson hat im schweizerischen Meiringen Reportern die wichtigsten Einzelheiten mitgeteilt. Wie es scheint, sind Holmes und Moriarty zusammen den Reichenbach-Wasserfall hinabgestürzt. Angesichts dieser guten Nachricht vermag ich für Moriarty, der Holmes mit in den Tod riss, kein
rechtes Mitleid zu empfinden. Schließlich war er aus dem Alter heraus, in dem man sich in Raufereien einlässt. Besser, er hätte diese niedere Arbeit seinen Mietlingen
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