Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
waren, meinten sie, ein Katholik müsse schuld sein. So übertrug man den Fall der Spezialabteilung der Polizei für Irland, die im Volksmund auch Spezialabteilung von Scotland Yard genannt wurde. Polizeikommissar James Monro hatte diese Sondereinheit vor zehn Jahren zum Zwecke der Bekämpfung irisch-republikanischer Terroristen zusammengestellt. Ihr Leiter war Oberinspektor John G. Littlechild. Es war Kriminalinspektor Gallagher, der mich dank seiner ausgiebigen Berichte auf dem Laufenden hielt.
Etwa eine Woche nach dem Tod des Kardinals bekam Littlechild Besuch von Mycroft Holmes. Immerhin war daran verwunderlich, dass ein höherer Regierungsbeamter in Whitehall einen niedriger gestellten aufsuchte. Er hatte seinen jüngeren Bruder, den unerträglichen Sherlock Holmes, bei sich. Mein Freund Gallagher, der die Informationen aus erster Hand erhalten hatte, erzählte mir von diesem Treffen. Holmes drückte Littlechild wortlos einen Umschlag in die Hand, der mit einem Wappen geprägt war. Als er ihn öffnete, musste er feststellen, dass der darin enthaltene Brief in Latein verfasst war, eine Sprache, die ihm nicht geläufig war. Die Tatsache, dass ihm die Holmes-Brüder nicht anboten, den Text zu übersetzen,
bis er sie ausdrücklich darum ersuchte, zeugt von ihrer Überheblichkeit.
Der Brief stammte, wie sich dann herausstellte, von keinem Geringeren als Gioacchino Pecci, der als Leo XIII. seit dreizehn Jahre den päpstlichen Thron innehatte. Der Papst verlangte, dass die Polizei Sherlock Holmes in ihre Ermittlungen einbeziehe und ihn nach Kräften bei seinen Nachforschungen unterstütze. Außerdem übergab Mycroft Littlechild ein Schreiben des Premierministers, in dem sich dieser dem Anliegen des Papstes anschloss. Mir war berichtet worden, dass Littlechild gegenüber Sherlock Holmes eine tiefe Abneigung empfand. Er hatte sich nicht gerade beliebt gemacht, indem er die fähigsten Mitarbeiter Scotland Yards – Inspektor Lestrade, zum Beispiel, sowie die Inspektoren Tobias Gregson und Stanley Hopkins – mit seinen sarkastischen Kommentaren der Lächerlichkeit preisgab, und das in aller Öffentlichkeit! Doch Littlechild blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Holmes und sein linkischer Mitarbeiter Watson bekamen freie Hand, die Angehörigen von Sir Gibsons Hausstand zu befragen und jede nur erdenkliche Nachforschung anzustellen. Zum Glück handelte Littlechild zumindest die Bedingung aus, dass Holmes und Watson stets von Kriminalinspektor Gallagher begleitet wurden. So blieb die Untersuchung in den Händen Scotland Yards – und ich wurde über jeden Schritt, den der »Meisterdetektiv« unternahm, in Kenntnis gesetzt, ohne dass er davon wusste.
Das nun Folgende wurde mir von meinem Freund Gallagher zugetragen.
Holmes informierte Gallagher, dass er Kardinal Toscas Sekretär in Paris telegrafiert habe. Dieser bestätigte, dass sich Seine Eminenz mit der erklärten Absicht nach London begeben habe, binnen achtundvierzig Stunden zurückzukehren. Der Anlass seiner Reise war der Besuch eines Fremden am Vorabend gewesen. Aufgrund seiner Aussprache hielt der Sekretär den Gast für einen Amerikaner. Der Mann überreichte dem Sekretär eine Visitenkarte, bedruckt mit einem
Namen und einem Symbol. Den Namen hatte sich der Sekretär nicht gemerkt, wusste aber mit Bestimmtheit zu sagen, dass das Symbol die Form einer Harfe hatte.
Die Unterredung zwischen dem Fremden und dem Kardinal dauerte nur wenige Minuten. Am nächsten Morgen brach Seine Eminenz mit dem Schiffszug nach London auf. Er bestand darauf, allein zu reisen, was äußerst ungewöhnlich war.
Inspektor Gallagher wies Holmes darauf hin, dass ihm dies alles bekannt sei, da er selbst ebenfalls dem Sekretär telegrafiert habe, doch Holmes zeigte sich unbeeindruckt. Er war derart von sich eingenommen, dass er nur seine eigenen Leistungen, nicht die der anderen, wertzuschätzen wußte.
Gallagher fuhr mit Holmes und Watson in einer zweirädrigen Droschke zu ihrer ersten Anlaufstelle, der Leichenhalle, wo Kardinal Toscas sterbliche Überreste lagen, ein Umstand, der bei den katholischen Kirchenoberen einen Aufschrei der Entrüstung ausgelöst hatte. Die Kirche fand es skandalös, dass Seine Eminenz nicht der gängigen Praxis gemäß feierlich aufgebahrt wurde.
Holmes bestand darauf, gemeinsam mit Watson den Leichnam zu untersuchen. Sie stießen bei Thomson, dem Arzt, der die Leiche als erster begutachtet hatte, sowie beim amtlichen
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