Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
eigentlich amüsanten und seltsamen Teil meiner Geschichte! Glassford leugnete nämlich, davon gewusst zu haben, dass sich der Kardinal in seinem Haus aufhielt. Presse und Polizei schenkten ihm keinen Glauben. Die Zeitungen der Liberalen gingen so weit, ihn mit Hohn und Spott zu überhäufen. In den Leitartikeln stand, die Regierung versuche, ein dunkles Geheimnis zu vertuschen. Forderungen nach Glassfords Rücktritt wurden laut, und selbst Lord Salisbury begann, sich von ihm zu distanzieren.
Glassford gab zu Protokoll, dass sich die Angehörigen seines Hausstandes zur gewohnten Zeit zu Bett begeben hatten: Glassford selbst, seine Gattin, die beiden gemeinsamen Kinder, ihr Kindermädchen, Hogan, der Butler, die Köchin und zwei Hausmädchen. Alle schworen Stein und Bein, dass sich kein Gast im Haus aufgehalten habe, geschweige denn Seine Eminenz.
Am Morgen kam eines der Hausmädchen aus ihrem Schlafzimmer im Dachgeschoss. Ihr Weg führte sie am Gästezimmer vorbei. Sie bemerkte, dass die Tür geöffnet war und die Nachttischlampe brannte. Da es zu ihren Pflichten gehörte, die Lampen zu löschen, ging sie hinein – und fand Kardinal Tosca. Seine Kleidung lag ordentlich gefaltet am Fussende des Bettes, die Schuhe standen nebeneinander unter dem Stuhl vor dem Toilettentisch. Er trug ein Nachthemd, sein Gesicht war bleich, und die Augen waren weit geöffnet. Das Hausmädchen nahm zunächst an, er sei ein später Gast, der mitten in der Nacht eingetroffen war, als sie schon schlief. Sie wollte sich
gerade für die Störung entschuldigen und sich diskret entfernen, als ihr auffiel, wie unnatürlich starr der Mann im Bett lag und dass seine Augen glasig wirkten. Sie holte Hogan, den Butler, der die Polizei rief, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Fremde tatsächlich tot war. Anhand der Kleidung und der Brieftasche gelang es der Polizei bald, die Identität des Toten festzustellen.
Die Haushaltsangehörigen wurden eingehend befragt, aber keiner konnte sich daran erinnern, den Kardinal je zuvor gesehen zu haben. Sir Gibson Glassford sagte aus, er und seine Frau hätten noch nicht einmal von seiner Existenz gewusst und ihn gewiss nicht als Übernachtungsbesuch eingeladen. Nachforschungen in katholischen Kreisen ergaben, dass Kardinal Tosca zwei Tage zuvor inkognito in London eingetroffen und bei Pater Michael von der St. Patrick’s Gemeinde am Soho Square untergekommen war. Im Jahre 1792 geweiht, war St. Patrick’s die erste katholische Kirche in England seit der Reformation. Pater Michael gab zu Protokoll, dass ihm der Kardinal nicht mitgeteilt habe, aus welchem Grund er in London sei, sondern lediglich, dass er aus Paris gekommen, mit der Fähre übergesetzt und in einen Zug gestiegen sei, der ihn zur Victoria Station brachte. In London hatte er sich zwei Tage aufhalten wollen, um sich mit »wichtigen Leuten« zu treffen. Pater Michael hatte ihm versprechen müssen, niemandem von seiner Anwesenheit zu erzählen, noch nicht einmal seinem Bischof.
Nun komme ich zu dem Punkt, der unserer Polizei das meiste Kopfzerbrechen bereitete: Pater Michaels Angaben zufolge hatte sich Seine Eminenz im Haus in der Sutton Street um zehn Uhr abends in sein Zimmer zurückgezogen. Er hatte sein Messbuch in der Bibliothek liegenlassen, und Pater Michael brachte es ihm. Der Kardinal war bereits im Nachthemd; er lag im Bett und schien wohlauf und guter Dinge. Am nächsten Morgen um sieben Uhr wurde er eineinhalb Meilen entfernt tot in Sir Gibsons Gästezimmer gefunden.
Die Presse verdoppelte ihre Forderungen nach Glassford Rücktritt; die liberalen Presseorgane verlangten gar, dass Lord Salisburys
gesamtes Kabinett den Hut nehmen sollte. In Belfast gab es Straßenkrawalle, angestachelt von Unionisten. Splittergruppen des Oranier-Ordens, einer Vereinigung radikaler Protestanten, organisierten Aufmärsche durch die katholischen Wohnbezirke. Überall war das furchterregende Dröhnen ihrer Lambeg-Trommeln zu hören.
Die Polizei verfügte über keinerlei konkrete Hinweise. Hogan, der Butler, wurde sehr nachdrücklich und tatkräftig »befragt«, wobei sich herausstellte, dass irgendein Cousin von ihm Mitglied der Irischen Nationalpartei war. Glassford, ein Mann mit Prinzipien, stellte sich öffentlich hinter seinen Bediensteten und goss damit Öl ins Feuer.
Letztendlich musste die Polizei einräumen, weder Todesursache, Täter noch Motiv zu kennen.
Die Behörden vermuteten eine Verbindung zu Irland, und voreingenommen, wie sie
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