Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Gedanken nachzuhängen, ehe er wieder zu sprechen anhub. »Wie ich vorhin sagte, stehst du kurz vor dem Examen, mit dem du eine hohe Qualifikation für die Ausübung der Rechtsprechung erlangen wirst. Mir wurde gerade ein Fall angetragen, von dem ich denke, dass du ihn übernehmen könntest. Jemand anders ist leider nicht greifbar, warum sollte ich ihn da nicht meiner besten Studentin übergeben.«
»Ich und einen Fall zur Klärung übernehmen?« Fidelma traute ihren Ohren nicht.
»Es handelt sich um gesetzwidriges Töten, geschehen in der unmittelbaren Umgebung hier. Nach meinem Verständnis bist du in der Lage, die Untersuchung zu führen und eine Empfehlung zu geben. Der Fall wäre für dich eine ausgezeichnete Bewährung in der Praxis, ehe du dich dem Abschlußexamen stellst.«
Verblüfft starrte ihn Fidelma an. »Ich bin doch aber gar nicht …«
»Du hast den Grad eines
clí
, und der ist eine tragende Säule im Haus der Rechtsprechung. Heißt es nicht immer, dass gerade diejenigen mit diesem Titel ein einwandfreies Urteil abgeben? Ein
clí
ist berechtigt, vor Gericht einen Fall darzustellen, wenn auch zugegebenermaßen nicht unbedingt einen von dieser Schwere. Du wirst die Verhandlung in meinem Namen führen, und ich bin überzeugt, dass du dich bewährst. Es dürfte dir nicht schwerfallen.«
»Ich werde mein Bestes tun«, sagte sie langsam. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Aufgabe reizte sie, und es erfüllte sie mit Stolz, dass Brehon Morann ihr ein solches Unterfangen zutraute.
»Großartig. In weiser Voraussicht habe ich die Hauptzeugen bereits in die Andachthalle gebeten. Sie erwarten dich, und niemand wird euch dort stören. Adnaí, unser
rechtaire
, der Verwalter, wird dir behilflich sein und steht dir zur Verfügung.«
Mit einer Handbewegung deutete er an, dass für ihn die Unterredung beendet war. Sie überging seine Geste und fragte: »Und wer sind die Opfer? Welche Umstände haben zum gesetzwidrigen Töten geführt?«
Ein flüchtiger Blick streifte sie, und mit verbissenem Lächeln erklärte er: »Das herauszufinden überlasse ich dir. Die Ermittlerin bist du.«
Draußen vor der Tür blieb Fidelma eine Weile stehen, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie würde es mit einem echten Fall zu tun haben, nicht mit einer theoretisch aufgegriffenen Examensfrage, wie sie Brehon Morann seinen Studenten zu stellen beliebte. Aus dem großen Kreis seiner Studenten hatte der Rektor sie für diese Aufgabe auserwählt. Mit einem zuversichtlichen Lächeln machte sie sich auf den Weg zum Gebäude, in dem sich die Andachtshalle befand.
Adnaí, der ältliche Verwalter der Schule, erwartete sie bereits. »Ich soll dir zur Hand gehen, Fidelma«, begrüßte er sie.«Deine Zeugen sitzen in der Halle, und das unter Aufsicht, damit sie sich nicht untereinander verständigen können. Den kleinen Nebenraum habe ich soweit hergerichtet; da kannst du einen nach dem anderen befragen.«
Fidelma bedankte sich. »Gibt es eine Zeugenliste?«
»Die erübrigt sich bei den wenigen Zeugen. Da haben wir den Apotheker Crosach, der die Leichen untersucht hat.«
»Leichen?«
»Na die von den Verstorbenen. Dann ist da noch Smiorghull, ein Knecht, der auf dem Hof gearbeitet hat, Bruder Soilen von der nahegelegenen Abtei; ach so, und dann noch Iorard, ein Richter von der Abtei.«
Fidelma wollte ihn schon fragen, um wen es sich bei dem Verstorbenen … den Verstorbenen handelte; ihr ging erst jetzt auf, dass er von Leichen im Plural gesprochen hatte. Sie unterließ es. Eine solche Fragestellung hätte als ein Zeichen der Schwäche gedeutet werden können, dass sie nicht wusste, wer die Opfer waren. Der Apotheker würde es ihr gewiss sagen können. »In Ordnung. Ich begebe mich in den Nebenraum. Wir …« Sie hielt inne und verbesserte sich dann entschieden. »Ich werde als ersten Zeugen den Apotheker vernehmen.«
Crosach, der Apotheker, war mittleren Alters und machte einen ausgesprochen gelangweilten Eindruck ob des ganzen Verfahrens.
Fidelma hatte hinter einem Tisch Platz genommen und war bemüht, eine überzeugende Figur abzugeben und so ihre jugendliche Erscheinung zu überspielen. Entsprechend den Gepflogenheiten erinnerte sie ihn eingangs daran, dass er als Zeuge per Eid zu wahrheitsgetreuer Aussage verpflichtet wäre. Nachdem er bekundet hatte, er würde nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit sprechen und nichts als die reine Wahrheit, begann sie ihre Befragung. »Waren dir die Verstorbenen bekannt, ehe du die
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