Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
nicht die höchstmögliche Qualifikation einer
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an. Hast du dir das gut überlegt?«
»Ich habe acht Jahre lang hier studiert, und sollte ich die bevorstehende Prüfung mit Erfolg ablegen, scheint es mir an der Zeit, hinaus in die Welt zu ziehen und mich in der Rechtsprechung zu üben, wie du es mich gelehrt hast«, erwiderte sie. »Erfahrung sammeln in der Anwendung des Gelernten.«
Gedankenvoll nickte Brehon Morann.
»Das klingt durchdacht. Hast du schon genauere Pläne? Dein Vetter ist König von Muman, dein Bruder sein
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, sein gesetzmäßiger Nachfolger. Sie könnten sich als hilfreich erweisen und anfänglich die Sicherheit bieten, ohne die kein vorwärtsstrebender junger Anwalt auskommt, bis er sich einen Ruf erworben hat und auf eigenen Füßen steht.«
Merklich gereizt krauste Fidelma die Stirn.
»Ich möchte ohne die Hilfe der Familie meinen Weg machen. Mein eigenes Können ist es, worauf ich baue, und nicht darauf, dass ich eine einflussreiche Familie habe.«
»Das ist eine gute Lebensphilosophie«, meinte Brehon Morann in weiser Nachsicht. »Nur lassen sich manchmal Ideale mit dem menschlichen Dasein nicht in Einklang bringen. Man muss wissen, was erreichbar ist und was nicht.«
»Ich habe einen Vetter, Abt Laisran von Durrow«, bekannte Fidelma leicht widerstrebend. »Der hat mir geraten, im Frommen Haus der heiligen Brigit von Kildare um Aufnahme zu bitten. Ich habe bereits mit der Vorsteherin des Klosters, Äbtissin Ita, gesprochen. Sie ist gewillt, mich in die Schwesternschaft aufzunehmen, und sie ist damit einverstanden, dass ich frei und unabhängig als Anwältin praktiziere. Damit wäre eine gewisse Sicherheit verbürgt.«
Brehon Morann seufzte.
»Du wärst nicht die erste, die sich so entscheidet«, gab er gleichmütig zu. »Die meisten in den gehobenen Berufen suchen den Schutz der Klöster, um von dort aus wirken zu können. Trotzdem, ich hätte immer gedacht, dass ein Leben hinter Klostermauern nicht deinem Wesen entspricht, Fidelma.«
Trotzig streckte Fidelma das Kinn vor und kniff die Augen zusammen, bemerkte aber den Gesichtsausdruck des Professors und sagte nichts. Der strahlte sie an.
»Du wirst es selbst feststellen. Menschen, die sich dem religiösen Leben verschreiben, brauchen eine heitere Gemütsruhe, müssen demütigen Sinnes sein. Ihr Dasein ist von beschaulicher Art. Du wirst dich ernsthaft in das Studium der Glaubenslehre versenken müssen, ähnlich intensiv wie du das Studium der Rechtslehre betrieben hast.«
»Dessen bin ich mir bewusst. Immerhin bin ich in Theologie und Philosophie nicht gänzlich ahnungslos. Ich glaube nicht, dass ein Leben im Kloster meiner beruflichen Laufbahn als Anwältin im Wege steht. Die christlichen Ordenshäuser bieten allemal den besseren Rückhalt für ein Wirken im Rechtswesen.«
Brehon Morann konnte nicht umhin, seine Bedenken zu äußern. »Die Rechtsprechung, die du hier studiert hast, und der Neue Glaube geraten oft in Widerstreit. Auf welcher Seite wirst du stehen, wenn es zu solch einem Konflikt kommt?«
»Die Menschen dieses Landes haben über viele Jahrhunderte hinweg Gesetz und Ordnung geschaffen«, antwortete Fidelma ohne Umschweife. »Ihre Erfahrung und ihre Lebensanschauung sind es, auf denen unsere Rechtsprechung beruht. Die so entstandenen Gesetzesvorschriften sind am besten geeignet, unsere Gesellschaft zu lenken und zu leiten. Recht und Gesetz sind oberstes Gebot, so lange bis es der Wille des Volkes anders entscheidet.« Und nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: »Hat nicht der Hochkönig Laoghaire vor mehr als zweihundert Jahren eine Kommission ins Leben gerufen, die die Gesetze überarbeiten sollte, auf dass sie nicht mit dem Glauben in Konflikt geraten? Und war nicht der heilige Patrick selbst zusammen mit den Bischöfen Benignus und Cairneach Mitglied eben dieser Kommission? Wie sollte unsere Rechtsprechung da nicht mit dem Glauben harmonisieren?«
Brehon Morann betrachtete sie einen Augenblick lang aufmerksam. »Beantworte mir eine Frage, Fidelma von Cashel«, sagte er dann. »Steht der Oberste Richter von Éireann über dem Gesetz?«
Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Und der Hochkönig?«
»Niemand steht über dem Gesetz«, erwiderte sie und war sich nicht ganz im Klaren, worauf der Professor hinauswollte. »Vor dem Gesetz sind alle gleich. Ein Grundsatz, der mich vom ersten Tag meines Studiums hier begleitet hat.«
Brehon Morann verzog keine Miene. Schweigend schien er seinen
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