Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Hast, die Flucht anzutreten, offenbar fallengelassen hatte.
MacBeth, Sohn von Findlay, war
Mòr-mhaor,
Kleinkönig von Moray, einem der sieben Königreiche von Alba. Er war niemandem als dem Großkönig unterstellt, dessen Regierungssitz sich im südlichen Sgàin befand.
Mit grimmiger Miene schaute er zu Boden. Dies war sein Schloss, und bei dem Toten handelte es sich um den Bruder seiner Gemahlin.
Als Schutz vor der kalten Nacht trug MacBeth um die Schultern einen Umhang. Erst vor wenigen Minuten hatte ihn der besorgte Oberkämmerer geweckt und angefleht, schnellstens in Malcoms Schlafgemach zu kommen.
Jedenfalls benötigte MacBeth keinen Dienstboten, Seher oder Propheten, um zu erkennen, dass jemand das Zimmer betreten, den jungen Prinzen brutal niedergestochen und anschließend die Tatwaffe zu Boden geworfen hatte.
»Sind die Tore noch verschlossen?« Er hob die Stimme, als sei er verärgert, und schaute hinaus in den Gang, wo ein Krieger seiner persönlichen Leibwache reglos verharrte.
»Jawohl, edler Herr«, erwiderte der Oberkämmerer. Sein Name war Garban. »Die Tore wurden wie gewohnt bei Sonnenuntergang verschlossen und werden erst bei Tagesanbruch wieder geöffnet. Eure Krieger stehen an den Toren Wache und patrouillieren auf dem Wall.«
»Also befindet sich der Übeltäter vermutlich noch innerhalb dieser Mauern?«
»Es sei denn, er besitzt Schwingen und ist davongeflogen oder hat sich wie ein Maulwurf unter den Mauern hindurch einen Weg ins Freie gegraben.«
MacBeth nickte voll bitterer Genugtuung. »Die Tore sollen verschlossen bleiben. Womöglich gelingt es uns, den Übeltäter einzufangen. Aber wo ist der Kämmerer des Prinzen? Warum ist er nicht zugegen?«
»Um die Wahrheit zu sagen, er wurde verletzt, gnädiger Herr. Er erhielt einen Schlag auf den Kopf. Man kümmert sich gerade um seine Platzwunde.«
»Lasst ihn sofort zu mir kommen, Garban. Und holt meinen Brehon, damit er die rechtlichen Aspekte der Angelegenheit in Augenschein nimmt. Wir dürfen bei unserer Jagd nach dem Mörder keine Zeit verlieren.«
Zwar konnte ein König oder auch ein Fürst bei Gerichtsverhandlungen als Richter oder Schiedsmann fungieren, aber das Gesetz schrieb vor, dass ein Brehon, ein Oberrichter, dem König zur Seite stehen musste, um sicherzustellen, dass dem Gesetz entsprochen und ein gerechtes Urteil gefällt wurde.
Der alte Oberkämmerer war im Begriff zu gehen, als hinter ihm jemand aufschrie. Es war MacBeths Gemahlin, Lady Gruoch, die er erst vor kurzem geheiratet hatte. Sie stand an der Tür, die Hände erschrocken vor den Mund geschlagen. Garban nickte ihr ehrerbietig zu und entfernte sich, um den Befehl seines Herrn auszuführen.
MacBeth ging seiner Gattin entgegen. Wie es schien, war sie doch aufgewacht, als er das Schlafzimmer verließ, um Garban zu folgen.
»Meine Liebe, ich muss dir leider mitteilen, dass dein Bruder tot ist«, sagte er sanft. Er hätte nicht gewusst, wie er ihr die bittere Wahrheit schonender hätte beibringen können.
Lady Gruoch hatte in den fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens schon viel Gewalt kennengelernt. Es war erst ein Jahr her, seit Gillecomgàin, ihr erster Mann und MacBeths Vorgänger als König von Moray, zusammen mit fünfzig seiner Krieger in seinem Schloss bei Inverness auf brutale Weise ermordet wurde: Man hatte sein Schloss mitsamt seinen Bewohnern bis zu den Grundmauern niedergebrannt. Die Attentäter wurden nie überführt, aber man munkelte, dass der Drahtzieher niemand anderes war als der Mann, mit dem Lady Gruoch nun ihr Bett teilte. Jetzt trug er anstelle des Ermordeten den Königsmantel von
Mòr-mhaor
und hatte seine Gemahlin längst davon überzeugt, dass der Verdacht gegen ihn völlig unbegründet sei. Inzwischen hatte sie den jungen rothaarigen Monarchen liebgewonnen, der sich nach Gillecomgàins Tod ihrer und ihres Kindes, des kleinen Prinzen Lulàch, angenommen hatte.
Als Gillecomgàins Schloss in Brand gesteckt wurde, war Gruoch mit ihrem Neugeborenen verreist gewesen. Das Volk von Moray, seines Regenten beraubt, wandte sich an MacBeth, dessen Vater Findlay vor Gillecomgàin den Thron innehatte. Dieser fiel nämlich nicht automatisch dem erstgeborenen Sohn zu, sondern wurde gemäß der uralten Gesetze der Brehons vergeben. Zwar war es Bedingung, dass der Thronfolger mit seinem Vorgänger blutsverwandt war, aber darüber hinaus musste er von den
derbhfine
gewählt werden, vier männlichen Nachkommen aus vier Generationen eines gemeinsamen
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