Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Vorfahren. Durch dieses Gesetz stellte man sicher, dass derjenige den Thron bestieg, der für besonders würdig und fähig befunden wurde.
Es bestand kein Zweifel, dass MacBeth ein würdiger und auch fähiger Thronfolger war. Überdies floss königliches Blut in seinen Adern, da er der Enkel des Großkönigs Malcom II. von Sgàin war. So bestieg der junge Edelmann mit dem roten Schopf den Thron von Moray.
Innerhalb eines Jahres war es MacBeth gelungen, Lady Gruoch davon zu überzeugen, dass er nicht für den Tod ihres Gatten verantwortlich war. Mehr noch, er hatte ihr Herz gewonnen. Erst vor knapp einem Monat hatte er sie geheiratet und ihren Sohn Lulàch adoptiert. Doch gab es böse Stimmen, die behaupteten, der ehrgeizige junge Mann habe Gruoch nur geheiratet, um seinen Anspruch auf den Thron in Sgàin zu festigen. Schließlich war sie die Enkelin eines Großkönigs, Kenneth III., der vor etwa dreißig Jahren verstorben war. Nur hier in diesem Gebiet, das auch das ehemalige Königreich der Cruithne einschloss, wurde die weibliche Thronfolge durch ein weiteres Gesetz der Brehons, bekannt als das »Piktengesetz« 1 , legitimiert. Das Gesetz war allerdings zum letzten Mal während der Regierungszeit Drust Mac Ferats vor zweihundert Jahren wirksam geworden. Also entbehrte das Gerede jeglicher Grundlage.
Jene, die logischer dachten, wiesen darauf hin, dass Lady Gruochs Bruder Malcom Mac Bodhe als Enkel Kenneth III. viel eher einen Anspruch auf die Thronfolge erheben konnte. Davon abgesehen war es allgemein bekannt, dass Malcom II., der nur Töchter hatte, weder seinen Enkel MacBeth noch irgendeinen anderen Abkömmling des Hauses Moray in Betracht zog, sondern vielmehr seinen anderen Enkel Duncan Mac Crinan, Sohn seiner ältesten Tochter und ihres Gatten, des Abtes von Dunkeld. Der alte König und sein Enkel Duncan stammten aus dem Hause Atholl und glaubten, mehr Anrecht auf den Thron zu haben als die Abkömmlinge des Hauses Moray, obwohl Malcoms zweitälteste Tochter Lady Doada Findlay von Moray geheiratet hatte und MacBeths Mutter war.
Im Hause Moray mutmaßte man, Malcom II. habe im vergangenen Jahr den Mord an Gillecomgàin angezettelt, mit dem Ziel, Duncans Thronfolger zu werden. Ein lebender Gillecomgàin hätte diese Absicht gefährdet. Seit seinem Tod war es Malcom Mac Bodhe, ein Enkel Kenneth III., der die ununterbrochene Regentschaft des Hauses Atholl in Frage gestellt hatte. In manchen Kreisen war man davon ausgegangen, dass er das Zepter von Malcom II. übernehmen würde.
Doch nun lag Malcom Mac Bodhe tot am Boden seines Schlafgemachs in MacBeths Schloss, auch er war einem Attentat zum Opfer gefallen.
Der junge König blickte seine Frau besorgt an. Sie lehnte am Türpfosten, atmete heftig und hielt sich die Hand an die bebenden Lippen.
»Es werden sich Stimmen erheben, Mylady, die mir die Schuld an seinem Tod geben«, sagte MacBeth leise. Er reichte der verzweifelten jungen Frau die Hand, die sie sofort ergriff. Sie schluchzte herzzerreißend auf, war aber offenkundig bemüht, sich zusammenzunehmen. In den Jahren, die sie in Angst und Schrecken verbrachte, hatte sie gelernt, ihre Gefühle so lange unter Kontrolle zu halten, bis sie ihnen gefahrlos freien Lauf lassen konnte.
»Wie das, Mylord?«
»Sie werden sagen, ich hätte deinen Bruder getötet, weil ich nach dem Thron von Sgàin trachte.«
Gruoch riss die Augen weit auf und schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde schwören, dass du seit dem gemeinsamen Abendessen mit meinem Bruder nicht von meiner Seite gewichen bist.«
»Kannst du das wirklich beschwören?«
»Jawohl, das kann ich, denn ich habe seit Stunden kein Auge zugetan. Wie du weißt, werde ich noch immer von Alpträumen geplagt und habe ständig die Schreckensvision, im Schlaf zu verbrennen, wie mein… Wie dein Cousin, Gillecomgàin. Ich habe gehört, wie Garban in unser Schlafgemach trat und dich bat, ihm zu folgen. Deswegen bin ich gekommen. Ich wollte wissen, was passiert ist.«
»Sie werden sagen, es sei nicht anders zu erwarten, als dass eine Ehefrau ihren Mann in Schutz nimmt. Oder sie werden dir unterstellen, du hättest den Tod deines Bruders gewollt, damit du bald auf dem Thron in Sgàin neben deinem Mann sitzen kannst. Manch einer mag sogar behaupten, du hättest, von Ehrgeiz getrieben, selbst die Tat verübt, während ich schlief!«
Lady Gruoch erbleichte und starrte ihn entsetzt an. »Für so ein teuflisches Wesen würde man mich halten?«, flüsterte sie. »Das seinen
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