Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
bist du in dieser Nacht noch einmal aufgewacht?«
»Ja, und zwar als sich Mylady über mich beugte. Es kam mir vor, als wäre ich gerade erst eingenickt. Sie sagte, sie könne nicht schlafen. Ich sollte ihr einen Becher Glühwein ans Bett bringen, was ich auch tat.«
»Ich nehme an, du weißt auch nicht, wann das war?«, fragte der Brehon resigniert.
»Oh, doch, es war kurz bevor Garban an Eure Zimmertür klopfte. Ich bereitete den Wein zu und brachte ihn ins Schlafgemach. Lady Gruoch saß aufrecht im Bett. Ihr, gnädiger Herr, lagt schlafend neben ihr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr in dieser Nacht ein einziges Mal erwacht seid, so tief und fest habt Ihr geschlafen und dabei … geschnarcht, dass sich die Balken bogen.« Sie feixte herausfordernd.
»Wie lange dauerte es dann, bis Garban an unsere Tür klopfte?« fragte MacBeth gereizt.
»Ich habe mich wieder hingelegt, bin aber nicht mehr eingeschlafen. Mag sein, dass eine Stunde verging, bis er kam. Ich weiß es nicht genau, jedenfalls war es nicht lange.«
Der Brehon blickte MacBeth besorgt an. »Lady Gruoch versicherte mir, dass Ihr die ganze Nacht an ihrer Seite ward. Nun müssen wir erfahren, dass sie zwischenzeitlich das Bett verließ. Wer soll sich aber für sie verbürgen? Wir müssen noch einmal nach ihr schicken.«
Kurz darauf erschien Gruoch. Sie wirkte schuldbewusst, aber nicht ängstlich. »Ja, ich habe das Schlafgemach verlassen«, räumte sie ein. »Ich erwähnte bereits, dass ich schlecht schlafe. Aus diesem Grund ließ ich mir auch von Margreg Glühwein bringen.«
»Aber Ihr wurdet beobachtet, wie Ihr den Flur entlanggegangen seid«, beharrte der Brehon. »Wohin, Mylady?«
Gruoch hob trotzig das Kinn. »Wenn Ihr es unbedingt wissen müßt, ich war bei meinem Bruder.«
Der Brehon sah Gruoch nachdenklich an. MacBeth wirkte alles andere als glücklich. »Dies ist eine ernste Angelegenheit, meine Liebe«, sagte er. »Bist du dir überhaupt bewusst, wessen man dich beschuldigen könnte? Verstehst du, warum ich mir in diesem Fall Klarheit verschaffen muss?«
»Ich verstehe sehr wohl, aber das, was ich mit meinem Bruder zu besprechen hatte, geht nur mich etwas an. Alles, was du wissen musst, ist, dass ich ihn gesund und munter antraf und ebenso verließ.«
»Das ist keineswegs alles, was ich wissen muss!« MacBeth erhob wütend die Stimme.
»Sachte, Mylord«, versuchte ihn der Brehon zu beschwichtigen. »Ich muss Eurem Gemahl allerdings recht geben, Mylady. Ihr müsst uns verraten, warum Ihr wie ein Dieb in der Nacht zu Eurem Bruder geschlichen seid. Was hattet Ihr für ein Geheimnis, das Ihr nur in der Dunkelheit, hinter dem Rücken Eures Gatten, mit Prinz Malcom besprechen konntet?«
Lady Gruoch wirkte ratlos und unglücklich. Sie sah MacBeth einige Augenblicke schweigend an, ehe sie sich dem Brehon zuwandte und sagte: »Nun gut. Da Ihr bereits die Beweise in den Händen haltet, kann ich ebensogut gestehen.«
»Welche Beweise? Wovon sprichst du?«, rief MacBeth verwirrt.
»Es ist allgemein bekannt, dass mein Bruder Malcom die Absicht hatte, den Thron des Großkönigs zu besteigen, sollte der Großvater meines Mannes sterben oder abdanken. Ebenso bekannt ist die Tatsache, dass MacBeths Cousin Duncan der bevorzugte Thronfolger ist, obwohl das Volk ihn nicht mag, nicht einmal die Bevölkerung von Atholl. Mein Bruder wollte sich mit den Clans von Moray gegen Sgàin verbünden. Dafür brauchte er Geld. Mein Gatte schenkte mir zur Hochzeit viel wertvollen Schmuck. Alles, was ich vorher besaß, hatte ich verloren, als Gillecomgàins Schloss niederbrannte. Ich war der Ansicht, mein Bruder könne von den Geschenken MacBeths besser Gebrauch machen als ich selbst.«
»Dann hast du also mitten in der Nacht den Schmuck zu deinem Bruder gebracht?«, fragte MacBeth skeptisch.
»Ja, kurz nach Mitternacht. So hatte ich es am Vorabend mit meinem Bruder verabredet. Niemand sollte von meinem Geschenk wissen.«
»War seine Tür verriegelt?«
»Ja. Er öffnete mir, als er meine Stimme erkannte.«
»Du sagtest, er lebte noch, als du gingst?«
»Jawohl. Er hat die Tür hinter mir verschlossen.«
»Und du gingst wieder zu Bett?«
»Ja.«
»Bedauerlicherweise gibt es niemanden, der bezeugen kann, dass er noch lebte, als Ihr ihn verlassen habt«, bemerkte der Brehon.
»Ich konnte nicht wissen, dass ich einen Zeugen brauchen würde. Wie Margreg mir berichtete, hat der Kämmerer Segan den Mörder mehrere Stunden, nachdem ich das Zimmer meines
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