Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
ist nicht mehr, und Lady Gruoch wird Euch unterstützen.«
»Auch richtig.«
»Ihr habt mir viel zu verdanken, gnädiger Herr.« Garban lächelte einschmeichelnd. »Ich hoffe, Ihr werdet mich angemessen entlohnen.«
»Das habe ich und das werde ich«, entgegnete MacBeth, drehte sich mit einer schnellen Bewegung um und versetzte dem alten Mann einen heftigen Stoß, der ihn über die Mauer in den felsigen Abgrund beförderte. Er hatte noch nicht einmal Zeit zu schreien.
Nachdem sich MacBeth vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtet hatte, gestattete er sich ein breites, zufriedenes Grinsen.
Schien’s, eine Schlange sähst du
»… Schien’s, eine Schlange sähst du …«
William Shakespeare,
»Ende gut, alles gut«,
Erster Aufzug, Dritte Szene
Hardy Drew, seit kurzem zum stellvertretenden Konstabler der Bankside-Wache ernannt, blickte aus dem Rautenfenster im ersten Stock hinunter auf die Straße. Mit unverhohlener Abneigung sah er eine Gruppe grölender Zecher über das Kopfsteinpflaster torkeln. Der Text des Liedes, das sie sangen, war klar verständlich:
»Sweet England’s pride is gone!
Welladay! Welladay!
Brave honor graced him still
Gallantly! Gallantly!«
Der junge Mann wandte sich abrupt vom Fenster ab. Sein Gesichtsausdruck war verärgert.
Am anderen Ende des Raums blickte der Konstabler der Bankside-Wache, ein älterer Herr namens Edwin Topcliff, von seinem Schreibtisch auf und lächelte spöttisch.
»Ihr könnt Volkes Stimme nicht beipflichten, Herr Drew, habe ich recht?«
Hardy Drew errötete, schob aber trotzig das Kinn vor und sagte: »Herr, ich bin ein treuer Diener Ihrer Majestät. Hoch soll sie leben.«
»Beherzte Worte«, entgegnete der Konstabler ernst. »Doch womöglich ist es nicht Gottes Wille, dass Ihre Majestät noch lange unter uns weilt. Man erzählt sich, sie sei bei schlechter Gesundheit und habe ihre Gemächer nicht mehr verlassen, seit Lord Essex’ Schicksal vom Henker besiegelt wurde.«
Es waren knapp zwei Wochen vergangen, seitdem der übermütige junge Robert Devereux, Graf von Essex, des Hochverrates für schuldig befunden und im Innenhof des Towers hingerichtet worden war. Aufruhr und Gerüchte bestimmten noch immer den Alltag in der Hauptstadt, und das Volk war nicht davon abzubringen, Lobeshymnen auf Essex zu singen, der für die meisten Londoner eine Art Held war. Wäre sein Versuch, die griesgrämige alte Königin zu stürzen, nicht vereitelt worden, wäre ihm so mancher vermutlich gefolgt.
Elisabeth lebte seither angsterfüllt im Greenwich Palace. Alle Zeichen standen auf Revolte; selbst der als eher konservativ bekannte William Shakespeare hatte sich wenige Wochen vor Essex’ Verhaftung dazu überreden lassen, mit seiner Truppe ein Stück zu inszenieren, in dessen Verlauf König Richard II. entthront und ermordet wurde. Gerüchten zufolge hatte eine Verschwörergruppe um Lord Essex, nachdem sie gemeinsam getafelt hatte, den Fluss überquert, um sich im Globe-Theater das ominöse Stück anzusehen.
Inmitten von Getümmel und Angriffen trat der junge Hardy Drew seinen Dienst in der Bankside-Wache an, um den alternden Konstabler bei seinem Auftrag, den Frieden der Königin zu wahren, tatkräftig zu unterstützen. Drew war ein ehrgeiziger junger Mensch, bestrebt, seinen Vorgesetzten positiv zu beeindrucken. Als Sohn eines Gerichtsschreibers war er durch die Protektion eines ihm wohlgesonnenen Anwalts in die Inns of Court, die Advokateninnung, aufgenommen worden, die er aber nach dem Tod des Mentors aufgrund seiner bescheidenen Herkunft sowie der Tatsache, dass er weder über gesellschaftliche Beziehungen noch über finanzielle Mittel verfügte, wieder verlassen musste. So kam es, dass er sich einem anderen Zweig des Rechtssystems zuwandte.
Der alte Meister Topcliff rieb sich nachdenklich die Nase, während er seinen neuen Assistenten genauer in Augenschein nahm. Das Gesicht des jungen Mannes war vor lauter gerechter Empörung feuerrot angelaufen.
»Ich rate Euch, an den Liedern, die Ihr hört und an den Sympathiebekundungen für Essex keinen Anstoß zu nehmen«, sagte er. »Die Zeiten ändern sich, alles ist im Umbruch. Das weiß ich, weil ich die Almanache studiere. Was heute noch als aufrührerisch gilt, kann morgen schon Gesetz sein.«
Hardy Drew schnaubte verächtlich und war soeben im Begriff zu widersprechen, als es laut an der Tür klopfte. Noch bevor einer von ihnen Gelegenheit hatte, »Herein!« zu rufen, platzte ein junger
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