Das Flüstern des Windes (German Edition)
Alter sein, aber sie strahlte eine Reife und Würde aus, die weit über die Jahre hinausging. Güte lag in ihren Augen verborgen, aber Sara konnte auch den erlittenen Schmerz sehen, der die Frau umgab wie eine unsichtbare Aura.
»Ich bin Sara!«, sagte sie schlicht.
»Ihr behauptet, Karems Schwester zu sein? Seine Schwester hieß Marga und starb vor vielen Jahren!«
»Ich weiß! Bitte verzeiht, es ist eine lange Geschichte, aber glaubt mir, ich bin seine Schwester!«
»Wie geht es Karem?«, fragte Lelina immer noch misstrauisch.
»Er ist tot!«, antwortete Sara schlicht.
Als Lelina den Schmerz in den Augen der anderen sah, wusste sie, dass Sara die Wahrheit sprach. In ihr zerbrach eine Welt.
»Tot?«
Die Prinzessin trat zu ihr und umarmte sie. Die körperliche Verbundenheit linderte den Schmerz, und Lelina fand Trost. In der Wiege war der Säugling erwacht und gluckste leise.
Sara wirkte überrascht. Mit zwei Schritten ging sie zur Wiege hinüber und betrachtete das rosige Gesicht, das zu ihr auflächelte. Die großen, braunen Augen blickten sie neugierig an, während der Mund schmatzende Geräusche machte.
»Ist das ...?« Sara schluckte schwer, bevor sie weitersprechen konnte. »Ist Karem der Vater deines Kindes?«
»Er ist Karems Sohn!«, antwortete Lelina stolz.
Der Säugling versuchte, nach Saras Nase zu grabschen. Seine kleinen Hände öffneten sich und schlossen sich immer wieder im vergeblichen Versuch, sie zu greifen. Sara sah, dass sich der Zeigefinger der rechten Hand nicht mitbewegte und steif blieb. Ihre Augen leuchteten, als sie sich wieder umwandte.
»Hat der Junge schon einen Namen?«
»Nein!«, antwortete Lelina verlegen. »Ich ... ich hatte gehofft, dass Karem zu mir zurückfindet und dass wir gemeinsam ...« Die Tatsache, dass er nun nie wiederkehren würde, ließ sie verstummen.
»Darf ich als Tante vielleicht einen Vorschlag machen?«, fragte Sara vorsichtig.
Lelina nickte stumm.
Sara blickte zu dem Säugling hinab. »Dann sollst du Larin heißen!«
»Das ist ein schöner Name!«, bestätigte Lelina, die zu ihr getreten war.
Sara sah ihr tief in die Augen. Sie streckte die Hand aus und Lelina ergriff sie. »Komm!«, sagte die Prinzessin leise. »Wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Lelina blickte sie erstaunt an, ließ die Hand aber nicht los.
»Dein Sohn wird einmal König sein!«, sagte Sara.
Der Mann ohne Namen saß grübelnd an einem kleinen Feuer und starrte nachdenklich in die Flammen. Er hatte sein Lager im Schutz einer umgestürzten Eiche aufgeschlagen, deren Stamm den heftigen Wind abhielt, der hier oben in den Bergen kalt und schneidend war.
Fragen quälten den jungen Mann.
Wer war er?
Woher kam er?
Was hatte er hier oben in den Bergen zu suchen?
Seine Kleidung schien ungeeignet für diese Witterung. Warum also hatte er sich nur leicht bekleidet in die Berge gewagt?
Der alte Ork-Schamane, der ihn gefunden und gesund gepflegt hatte, glaubte, dass er die Ebene auf der anderen Seite der Berge erreichen wollte. Anscheinend war er in eine Felsspalte gestürzt, und der Zauberer hatte ihn dort bewusstlos gefunden. Wenn er gestürzt war, warum hatte er dann keine Schürfwunden oder gebrochene Knochen?
Einzig und allein sein Gedächtnis hatte gelitten. Er wusste, wie man ein Feuer machte, und früh am Abend hatte er zu seinem Erstaunen entdeckt, dass er ein Schwert handhaben konnte. Seine Geschicklichkeit im Umgang mit dieser Waffe war verblüffend. Offensichtlich war er ein Krieger. Das erklärte auch den Großteil der alten Narben an seinem hageren Körper.
Er ballte eine Faust mit der rechten Hand, aber der Zeigefinger blieb unbeweglich. Warum konnte er sich nicht an so eine ungewöhnliche Verletzung erinnern? Irgendwann einmal musste er sich die Hand gebrochen haben und der Finger war steifgeblieben.
»Wer bin ich?«, fragte er laut in die Dunkelheit.
Er konnte sprechen, er kannte also eine vollständige Sprache mit Tausenden von Wörtern. Warum wollte ihm bloß sein Name nicht einfallen?
Sein Blick wanderte zu der glänzenden Axt, die zu seinen Füßen lag. Der Ork-Schamane hatte sie ihm geschenkt, aber was sollte er damit? Der Griff war für seine Hände zu dick, der Axtstil zu lang und die Axtklinge viel zu schwer. Er konnte sie gerade noch hochheben, benutzen würde er sie nie können. Außerdem spürte er, dass er keine Erfahrung mit dieser Waffe besaß. Warum also dieses sonderbare Geschenk?
Seine Finger strichen sanft über die Axt. Ein Geheimnis
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