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Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe

Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe

Titel: Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Sidjani
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Riesen gleich nun dies Warenhaus erschütternd. Kaum war es wieder ruhig und still und ich glaubte, meiner überreizten Einbildung ausgeliefert zu sein, begann es wieder, heftiger als zuvor, nun auch Regal und Sofa erfassend.
    „Spürst du dies auch oder bin ich ein Narr?“ fragte ich behutsam, meinen Schrecken verbergend. Statt einer Antwort rüttelte es noch doller unter dem Getöse des Unwetters, das draußen wütete. Die Kerzenhalter auf dem Tische wurden umgerissen, mein Becher fiel zu Boden und zerplatzte – in plötzlicher Dunkelheit, als würde das Geschehen um uns pausieren, dies Nichts mehr, weder Laut noch Licht.
    „Dennis“, sagte ich, „Dennis, mein Freund, so fürchte dich nicht. All das ist nur die Ausgeburt unserer Phantasie.“
    Da flüsterte es in mir so vertrauten Phrasen: „Im Blute durchdringen wir Mauern.“ Dies grauenhafte Gedicht. Doch mit meinem Wissen um die Erklärung des Phänomens war es mir möglich, meine aufkeimende Panik zu ersticken und auf dem Tische neben mir nach den Streichhölzern zu tasten. Es gelang mir erst, als die Worte sich im Kreise wiederholten, und unter abstürzend … im Blute … abstürzend … entzündete ich eine Flamme, die mehr Schatten warf als tatsächlich den Raum erhellte. Auf dem Bette lag … in einer lebendigen Welt … mein Freund, dessen Augen ins Leere starrten … die des Todes bedarf … und dessen Lippen, mir schlich es so kalt über meine Glieder, sich nicht bewegten, während dies Flüstern … vergessenen Schrittes … fortwährend erklang. Ein weiteres Streichholz entzündet fühlte ich nach Dennis Roders Puls, der wie das Heben und Senken seiner Brust verschwunden war. Abstürzend ob seiner Last … sprang ich vom Stuhl auf. Unter Beben und Donnern und Grölen rannte ich durch den Flur, zur Tür hinaus in die große, weite Leere – dort das Flüstern noch lauter und drängender, die Vielzahl an Stimmen. Zwei Mal fiel ich bei meiner Flucht zu Boden, weil die Kraft des Erdbebens, dem Gewitter und dem Flüstern gleich, zunahm von Moment zu Moment. Verzehrende Panik peitschte mich voran, Treppen hinab, die mir zuvor nicht aufgefallen, ins untere Stockwerk, das genau so verwahrlost war. Dort wurde ich der zersprungenen Fenster und unzähligen Splitter gewahr, rannte durch einen der nun leeren Rahmen ins Freie, ins wütende Stürmen des Unwetters, in klatschenden Regen, hinaus aus dem Orte des Schreckens, weg auf die andere Straßenseite, entfernt vom Epizentrum des Erdbebens. 
    Als ich mich umdrehte, sah ich das Chaos in seinem vollen Ausmaße: die Mauern des Warenhauses, vom Beben erfasst, zitterten und es lösten sich einige der gitterartigen, weißen Latten des ersten Stockwerks, donnerten auf die Straße, zersprangen in ihre Teile, zunehmend riss das Mauerwerk auf und jener Spalt, der mir bei meiner Ankunft so unscheinbar erschienen war, teilte nun die unterste Front. Über dem Haus, man mag mir glauben, ballten sich düsterste Wolken, aus denen ein Wirbelsturm sauste, in Blitz und Donner das Dach zerfetzte. Es war weiß Gott ein grausam schöner Anblick, in wilder Einzigartigkeit zerstörte das Unwetter das Anwesen, bis ein wütender Stoß des Wirbelsturms das einst so mächtige Gestein auseinander bersten ließ, und das Gebäude unter einem lang anhaltenden, lärmenden Tosen in sich zusammen brach, bis nicht mehr als eine Ruine davon übrig blieb. Dann wurde der Regen dichter und dichter, bis sich ein Vorhang aus Millionen von Tropfen um die Trümmer des flüsternden Hauses legte.
     
     

Valentin
    *****
     
     
    Die Norm und die aus ihr geborene Normalität sind nicht mehr als ein gesellschaftliches Konstrukt. Für die meisten von euch ist diese unwiderlegbare Tatsache schwer zu verstehen. Wohl werdet ihr euch bis zu eurem Tode nicht damit befassen wollen. Und ihr bekämt nur dann einen Geschmack davon, wenn ihr Zeuge eines Phänomens würdet, das von der Norm abweicht. Schon eine anders geartete Begrüßung, das Tätscheln der rechten Wange etwa anstatt eines Händedrucks, würde euch befremden. Doch ohne dem nötigen Potential zur Reflexion werdet ihr diese Begebenheit als skurril abtun und euch weiter in den Alltag fügen. Letztendlich benötigt der Alltag aber das Abweichende, um Normalität bleiben zu können. Darum berichten Zeitungen so mannigfaltig über abweichendes Verhalten, ja, dadurch konstituieren sie eine Wahrheit, die eigentlich nicht existiert.
    Nun, es mag doch eine Wahrheit geben, die nämlich, dass abweichendes

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