Das Foucaultsche Pendel
Bombardie-rungen schlimmer geworden, und meine Mutter hatte be-348
schlossen, uns zu evakuieren, wie man damals sagte. In ***
wohnten Onkel Carlo und Tante Caterina. Onkel Carlo kam aus einer Großbauernfamilie und hatte das Haus in *** geerbt, mit Land, das an einen gewissen Adelino Canepa ver-pachtet war, zur Halbpacht. Die Halbpächter beackerten das Land, ernteten das Korn, kelterten den Wein und überwie-sen die Hälfte der Einkünfte an die Besitzer. Natürlich war das eine gespannte Situation, die Halbpächter fühlten sich ausgebeutet und die Besitzer auch, weil sie nur die Hälfte der Erträge ihres Landes bekamen. Die Besitzer haßten die Halbpächter, und die Halbpächter haßten die Besitzer. Aber sie lebten zusammen, im Haus meines Onkels Carlo. Onkel Carlo hatte sich 1914 freiwillig zu den Alpini gemeldet. Von rauher piemontesischer Wesensart, ganz Pflicht und Vater-land, war er erst Leutnant, dann Hauptmann geworden. Und dann, in einer der blutigen Schlachten am Isonzo, befand er sich zufällig neben einem idiotischen Soldaten, der eine Granate in der Hand explodieren ließ — warum hieße sie sonst auch Handgranate? Na jedenfalls, er sollte gerade ins Mas-sengrab geworfen werden, da bemerkte ein Sanitäter, daß er noch lebte. Sie brachten ihn in ein Feldlazarett, nahmen ihm ein Auge ab, das nur noch an Fäden aus der Höhle hing, amputierten ihm einen Arm und pflanzten ihm, nach Auskunft von Tante Caterina, auch eine Metallplatte unter den Skalp, weil er ein Stück von der Schädeldecke verloren hatte.
Kurz, ein chirurgisches Meisterwerk auf der einen Seite und ein Held auf der anderen. Silbermedaille, Ritterkreuz der italienischen Krone und nach dem Krieg ein sicherer Posten als Staatsbeamter. Onkel Carlo wurde schließlich Leiter des Finanzamts in ***, wo er den Familienbesitz geerbt hatte und hingezogen war, um im Haus seiner Ahnen zu leben, zusammen mit Adelino Canepa und dessen Familie.«
Onkel Carlo als Chef des Finanzamts gehörte zu den örtlichen Honoratioren. Und als Kriegsversehrter und Ritter der italienischen Krone konnte er nicht umhin, ein Sympathi-sant der Regierung zu sein, sei diese auch die faschistische Diktatur. War Onkel Carlo Faschist?
»In dem Maße, wie — wie man Achtundsechzig sagte —
der Faschismus die Kriegsveteranen aufgewertet, mit Deko-rationen behängt und in der Karriere vorangebracht hatte, können wir sagen, war Onkel Carlo ein moderater Faschist.
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Genug jedenfalls, um von Adelino Canepa gehaßt zu werden, der ein überzeugter Antifaschist war, aus sehr klaren Gründen. Er mußte sich jedes Jahr zu ihm ins Amt begeben, um seine Steuererklärung auszufallen. So kam er dann ins Büro mit komplizenhafter und dreister Miene, nachdem er Tante Caterina mit ein paar Dutzend Eiern zu verführen versucht hatte, und sah sich Onkel Carlo gegenüber, der nicht nur als Held unkorrumpierbar war, sondern auch besser als jeder andere wußte, wieviel ihm der Canepa im Laufe des Jahres gestohlen hatte, wovon er ihm keinen Centesimo verzieh. Adelino Canepa betrachtete sich als Opfer der Diktatur und begann, verleumderische Gerüchte über Onkel Carlo zu verbreiten. Sie wohnten im selben Haus, der eine in der Beletage, der andere im Erdgeschoß, sie begegneten sich morgens und abends, aber sie grüßten einander nicht mehr.
Den Kontakt hielt Tante Caterina aufrecht, und nach unserer Ankunft meine Mutter — der Adelino Canepa sein tiefes Mitgefühl und volles Verständnis für den Umstand versicherte, daß sie mit einem Monstrum verschwägert war. Der Onkel kam heim, jeden Abend um sechs, in seinem üblichen grauen Zweireiher, mit Schlapphut und einer noch ungelesenen Stampa in der Hand. Ging aufrecht wie ein Alpino, das graue Auge in die Ferne auf den zu erklimmenden Gipfel gerichtet. Stapfte vorbei an Adelino Canepa, der um diese Zeit die Abendfrische auf einer Bank im Garten genoß, und es war, als ob sie einander nicht sähen. Dann traf er die Signora Canepa an der Tür zum Erdgeschoß und zog feierlich den Hut. So ging es jeden Abend, Jahr für Jahr.«
Es war bereits acht, Lorenza war immer noch nicht erschienen, und Belbo war beim fünften Martini.
»Es kam das Jahr 43. Eines Morgens erschien Onkel Carlo bei mir im Zimmer, weckte mich mit einem dicken Kuß und sagte: Mein Junge, willst du die größte Neuigkeit des Jahres hören? Sie haben Mussolini gestürzt! Ich habe nie begriffen, ob Onkel Carlo darunter gelitten hat Er war ein höchst integrer Bürger und
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