Das Foucaultsche Pendel
frühen Moderne. Die Linien der originalen Zeichnung zog er dann mit einer Punktierungstechnik in feinsten Farbabstufungen nach, wobei er Punkt für Punkt das ganze Spektrum durchging, so daß er jedesmal mit einem flammend leuchtenden Kern begann und im absoluten Schwarz endete — oder umgekehrt, je nach dem mystischen oder kosmologischen Konzept, das er ausdrücken wollte. Es gab Gebirge, die Lichtstrahlen aussandten, zerlegt in eine Wolke zart pastellfarbener Kügelchen, man ahnte konzentri-sche Himmel, bevölkert von angedeuteten Engeln mit trans-parenten Flügeln, ähnlich dem Paradies von Doré. Die Titel lauteten Beatrix, Mystica Rosa, Dante Gabriele 33, Fedeli d’Amore, Athanòr, Homunculus 666 — aha, dachte ich, daher Lorenzas Leidenschaft für die Homunculi. Das größte Bild hieß Sophia und zeigte eine Art Engelsturz mit schwarzen Engeln, der unten zerlief und eine weiße Kreatur erzeugte, die von großen fahlgrauen Händen gestreichelt wurde, ein Abklatsch der beiden Hände, die sich in den Himmel von Guernica recken. Die Mischung war dubios, und aus der Nähe sah man, daß die Ausführung ziemlich roh war, aber aus zwei bis drei Metern Entfernung war der Effekt sehr lyrisch.
»Ich bin ein Realist alter Schule«, flüsterte Belbo mir zu, 355
»ich kapiere nur Mondrian. Was soll ein nichtgeometrisches Bild darstellen?«
»Früher war er geometrisch«, sagte ich.
»Das war keine Geometrie. Das war Fliesendekoration für Badezimmer.«
Inzwischen war Lorenza zu Riccardo gelaufen, um ihn zu umarmen, und er und Belbo hatten sich einen Gruß zugewinkt. Es war knallvoll, die Galerie präsentierte sich wie ein Loft in New York, rundum weißgekalkt, die Heizungs- oder Wasserrohre nackt an der Decke. Mußte einen Haufen gekostet haben, sie so roh herzurichten. Eine Stereoanlage in einer Ecke betäubte die Anwesenden mit orientalischer Musik, so etwas mit Sitar, wenn ich mich recht erinnere, die Sorte, bei der man die Melodie nicht erkennt. Alle gingen achtlos an den Bildern vorbei, um sich am Büffet im hinteren Teil zu versammeln und sich einen Pappbecher zu sichern.
Wir waren zu vorgerückter Stunde gekommen, die Luft war voller Rauchschwaden, ab und zu deuteten ein paar Mädchen in der Mitte des Saales Tanzschritte an, aber alle waren noch damit beschäftigt zu plaudern und das Büffet zu plündern, das tatsächlich sehr reichhaltig war. Ich setzte mich auf ein Sofa, neben dem eine große, noch halbvolle Schüssel mit Obstsalat auf dem Boden stand. Ich wollte mir gerade etwas davon nehmen, denn ich hatte noch nichts gegessen, da schien mir, als entdeckte ich darin den Abdruck eines Fußes, der die Fruchtwürfel in der Mitte zusammengepreßt und zu einem homogenen Brei vermanscht hatte. Das war nicht unmöglich, denn der Boden war inzwischen glitschig von Weißweinpfützen, und manche der Eingeladenen bewegten sich schon etwas mühsam.
Belbo hatte sich einen Becher geschnappt und ging träge, scheinbar ziellos umher, mal diesem, mal jenem auf die Schulter tippend. Er suchte nach Lorenza.
Aber nur wenige standen still. Die Menge befand sich in einer zirkulären Bewegung, wie ein Bienenschwarm, der nach einer noch unbekannten Blüte sucht. Ich suchte nichts, war aber trotzdem aufgestanden und ließ mich von den Impulsen der Menge treiben. Ein paarmal sah ich Lorenza vorbeikommen, die herumstreunte und leidenschaftliches Wiedererkennen mit diesem und jenem fingierte: Kopf hoch, Blick gewollt kurzsichtig, Brust und Schultern gerade über 356
einem wiegenden Giraffengang.
An einem bestimmten Punkt blockierte mich der natürliche Fluß in einer Ecke hinter einem Tisch, im Rücken von Lorenza und Belbo, die sich endlich getroffen hatten, vielleicht per Zufall, und gleichfalls blockiert waren. Ich weiß nicht, ob sie meine Anwesenheit bemerkt hatten, aber bei dem allgemeinen Lärm hörte ohnehin niemand mehr, was die anderen sagten. Sie betrachteten sich als allein miteinander, und ich war gezwungen, ihr Gespräch mit anzuhören.
»Also«, sagte Belbo, »wo hast du deinen Agliè kennengelernt?«
»Meinen? Auch deinen, nach dem, was ich heute gesehen habe. Du meinst wohl, nur du darfst Simon kennen und ich nicht. Na bravo!«
»Wieso nennst du ihn Simon? Weil er dich Sophia nennt?«
»Ach, das ist doch ein Spiel! Ich hab ihn bei Freunden kennengelernt, okay? Und ich finde ihn faszinierend. Er küßt mir die Hand, als ob ich eine Prinzessin wäre. Und er könnte mein Vater sein.«
»Paß auf, daß er
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