Das Foucaultsche Pendel
drittes Regiment, Sasso di Stria! Die Schlacht am Sonnwendtag? Jawoll, die Schlacht am Sonnwendtag, Und die Kanonade bei den Fünf Fingern?
Gottverdammich, wenn ich das nicht mehr wüßte! Und dieser Sturmangriff mit gezücktem Bajonett am Abend vor San Crispino? Potzblitzsakrament! — Naja, solche Sachen. Dann, der eine einarmig, der andere einbeinig, hatten sie beide wie ein Mann einen Schritt vorgetan und sich umarmt. Terzi hatte gesagt: Sehen Sie, Cavaliere, sehen Sie, Herr Major, uns ist hinterbracht worden, daß Sie Steuern eintreiben für das faschistische Regime im Dienst der deutschen Besatzer. Sehen 352
Sie, Herr Kommandant, hatte Onkel Carlo gesagt, ich habe Familie und beziehe mein Gehalt von der Zentralregierung, die eben ist, wie sie ist, ich habe sie nicht gewählt, was würden Sie an meiner Stelle tun? Lieber Major, hatte Terzi geantwortet, ich an Ihrer Stelle würde genauso handeln wie Sie, aber lassen Sie’s wenigstens etwas langsamer angehen, nehmen Sie sich Zeit. Ich werde sehen, hatte Onkel Carlo gesagt, ich habe nichts gegen euch, auch ihr seid Söhne Italiens und wackere Kämpfer... Kurzum, ich glaube, die beiden haben sich so gut verstanden, weil beide das Wort Patria mit einem großen P aussprachen. Terzi hatte befohlen, dem Herrn Major ein Fahrrad zu geben, und so war Onkel Carlo nach Hause geradelt. Adelino Canepa ließ sich einige Monate lang nicht mehr blicken... Das war’s, was ich meinte, ich weiß nicht, ob diese Sache hier spirituelle Ritterschaft ist, aber sicherlich gibt es Bande, die jenseits und über allen Parteiun-gen fortbestehen.«
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Denn ich bin die Erste und die Letzte. Ich bin die Geehrte und die Gehaßte. Ich bin die Heilige und die Hure.
Fragment aus Nag Hammadi, 6, 2
Endlich erschien Lorenza. Belbo betrachtete die Decke und bestellte einen letzten Martini. Eine knisternde Spannung lag in der Luft, und ich machte Anstalten, mich zu erheben.
Lorenza hielt mich zurück »Nein, kommt alle mit mir. Heute abend wird die neue Ausstellung von Riccardo eröffnet, er inauguriert einen ganz neuen Stil! Er ist phantastisch, du kennst ihn doch, Jacopo.«
Ich wußte, wer Riccardo war, er hing immer bei Pilade herum, aber damals begriff ich nicht, wieso Belbo sich noch intensiver auf die Decke konzentrierte. Jetzt, nachdem ich seine files gelesen habe, weiß ich, daß Riccardo der Mann mit der Narbe war, mit dem Belbo nicht den Mut gehabt hatte, einen Streit anzufangen.
Lorenza insistierte, die Galerie sei ganz in der Nähe, sie hätten ein richtiges Fest organisiert, eine wahre Orgie. Diotallevi war entsetzt und sagte sofort, er müsse nach Hause, ich war unschlüssig, aber es war klar, daß Lorenza mich mit dabeihaben wollte, und auch das machte Belbo leiden, da er den Moment des Zwiegesprächs mit ihr entschwinden sah.
Aber ich konnte mich der Einladung nicht entziehen, und so machten wir uns auf den Weg.
Ich mochte diesen Riccardo nicht besonders. Zu Beginn der sechziger Jahre hatte er sehr langweilige Bilder produziert, kleinteilige Muster in Schwarz und Grau, sehr geometrisch, ein bißchen Op-art, die einem vor den Augen flimmerten. Sie hatten Titel wie Composition 15, Parallaxe 17, Eu-klid X. Kaum hatte dann Achtundsechzig begonnen, machte er Ausstellungen in besetzten Häusern, er hatte die Farbpa-lette ein wenig geändert, jetzt waren es scharfe Schwarzweißkontraste, nicht mehr ganz so kleinteilig, und die Titel 354
lauteten C’est n’est qu’un début, Molotow oder Hundert Blumen. Als ich aus Brasilien zurückkam, hatte ich ihn in einem Zirkel ausstellen sehen, wo man den Doktor Wagner verehrte. Er hatte das Schwarz eliminiert und arbeitete nur noch mit weißen Strukturen, in denen sich die Kontraste lediglich durch die Dicke des Farbauftrags auf einem porösen Bütten-papier ergaben, so daß die Bilder, wie er erklärte, verschiedene Profile je nach dem Lichteinfall produzierten. Sie hie-
ßen jetzt Eloge der Ambiguität, Al Traverso, Ça, Bergstraße und Denegation 15.
Als ich an jenem Abend in die neue Galerie kam, sah ich sofort, daß Riccardos Kunstbegriff eine tiefgreifende Evolution durchgemacht hatte. Die Ausstellung nannte sich Megale Apophasis. Riccardo war zum Figurativen übergegangen, mit einer leuchtenden Farbenpalette. Er spielte mit Zitaten, und da er, glaube ich, nicht zeichnen konnte, arbeitete er vermutlich mit Diaprojektionen berühmter Gemälde — die Auswahl bewegte sich zwischen Fin-de-siècle-Naturalisten und Symbolisten der
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