Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
weiter nördlich überqueren, um sie von hinten zu fassen, unerwartet, praktisch bereits als Sieger. Dann drauf mit Gebrüll und keine Gnade.
    Bei Einbruch der Dämmerung kletterten wir wie geplant die steile Böschung hinauf, schwer beladen mit Steinen und Knüppeln. Oben angelangt, sahen wir sie schon hinter dem Bahnhofs-klo stehen. Sie erblickten uns sofort, da sie genau in unsere Richtung spähten. So blieb uns nichts anderes übrig, als möglichst schnell runterzulaufen, ohne ihnen Zeit zu lassen, sich lange über die Evidenz unserer Taktik zu wundern.
    Niemand hatte uns vor dem Angriff mit Feuerwasser versorgt, aber wir stürmten trotzdem voran mit Gebrüll. Dann, etwa hundert Meter vorm Bahnhof, geschah es. Dort standen die ersten Häuser des Dorfes, und obwohl es nur wenige waren, bildeten sie doch schon ein kleines Gassengewirr. Es geschah, daß die kühnste Gruppe sich furchtlos auf die Feinde stürzte, während ich und —
    zu meinem Glück — ein paar andere die Gangart verlangsamten und hinter den Ecken der Häuser stehenblieben, um aus der Ferne zuzusehen.
    Hätte uns Martinetti in Vor- und Nachhut eingeteilt, wir hätten nur unsere Pflicht getan, aber so war’s eine Art von spontaner Aufteilung. Die Mutigen vorn, die Feigen hinten. Und aus unserem Schlupfwinkel, ich noch ein Stückchen weiter hinter den andern, beobachteten wir den Kampf. Der nicht stattfand.
    Als sich die beiden Gruppen bis auf ein paar Meter genähert hatten, machten sie halt und standen sich zähnefletschend gegen-
    über. Die Anführer traten vor und verhandelten. Es war ein Jalta, sie beschlossen, sich die Einflußzonen zu teilen und gelegentliche Transite zu dulden, wie einst die Christen und Moslems im Heiligen Land. Die Solidarität zwischen den beiden Ritterheeren ob-siegte (ist das ein Gallizismus?) über die Unausweichlichkeit der Entscheidungsschlacht. Jeder hatte eine schöne Mutprobe abgelegt. In schöner Eintracht zogen sie sich auf gegnerische Seiten zurück. In schöner Eintracht zogen die Gegner sich auf entgegen-139
    gesetzte Seiten zurück. Sie gingen einträchtig auseinander.
    Heute sage ich mir, daß ich damals stehengeblieben war, weil ich lachen mußte. Aber damals sagte ich mir das nicht. Ich fühlte mich einfach nur feige.
    Heute sage ich mir, noch feiger, wenn ich damals weitergelau-fen wäre, hätte ich nichts riskiert und in den folgenden Jahren besser gelebt. Ich habe die GELEGENHEIT verpaßt, mit zwölf Jahren. Und das ist, wie wenn man beim ersten Mal keine Erektion hat: man bleibt impotent fürs ganze Leben.
    Einen Monat danach, als die Viottolos und die Canalettos sich aufgrund einer zufälligen Grenzverletzung unversehens auf offenem Feld gegenüberstanden und Erdklumpen aufeinander zu schmeißen begannen, trat ich, vielleicht beruhigt durch den Verlauf der letzten Begegnung, vielleicht auch begierig auf Märtyrer-tum, in die erste Reihe vor. Es war ein unblutiger Zusammenstoß, außer für mich. Einer der Erdklumpen, der offenkundig ein Herz von Stein in sich barg, traf mich an der Lippe und spaltete sie. Ich floh, rannte heulend nach Hause, und meine Mutter mußte lange mit einer Pinzette herumpulen, um mir die Krümel aus der Wunde zu holen, die sich innen im Mund gebildet hatte. Tatsache ist, daß ich noch heute ein kleines Knötchen vorn im Mund habe, unter dem rechten unteren Eckzahn, und wenn ich mit der Zunge drü-
    berfahre, spüre ich ein Vibrieren, ein leichtes Erschauern.
    Aber dieses Knötchen erteilt mir keine Absolution, denn ich habe es mir aus Versehen zugezogen, nicht aus Mut. Ich fahre mit der Zunge drüber, und was tue ich? Ich schreibe. Aber schlechte Literatur erlöst nicht.
    Nach jener Demonstration sah ich Belbo etwa ein Jahr lang nicht mehr. Ich hatte mich in Amparo verliebt und ging nicht mehr zu Pilade, beziehungsweise die wenigen Male, wenn ich mit Amparo auf einen Sprung hineingeschaut hatte, war Belbo nicht dagewesen. Und Amparo mochte das Lokal nicht. Ihr moralischer und politischer Rigorismus — ver-gleichbar nur ihrer Anmut und ihrem herrlichen Stolz — ließ sie Pilade als einen Club für demokratische Dandys empfinden, und den demokratischen Dandyismus betrachtete sie als ein Element, das subtilste, des kapitalistischen Herr-schaftsgefüges. Es war ein Jahr voller Engagement, in gro-
    ßem Ernst und großer Freude. Ich arbeitete lustvoll, aber in Ruhe an meiner Dissertation.
    140
    Eines Tages traf ich Belbo auf der Straße, nur wenige Schritte vor seinem Büro.

Weitere Kostenlose Bücher