Das Foucaultsche Pendel
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irgendwelche konkreten Anhaltspunkte für Ihre Gewissensbisse?«
»Was sind konkrete Anhaltspunkte bei diesen Dingen?
Ach, übrigens, apropos Neurosen, heute abend muß ich zu einem Essen mit Doktor Wagner. Höchste Zeit, mich auf den Weg zu machen, ich werde ein Taxi an der Scala nehmen.
Gehen wir, Sandra?«
»Doktor Wagner?« fragte ich, während wir uns verabschiedeten. »Er persönlich?«
»Ja, er ist für ein paar Tage in Mailand, und vielleicht kann ich ihn überreden, uns etwas von seinen unveröffentlichten Schriften zu geben, für ein Aufsatzbändchen. Wäre ein schö-
ner Coup.«
Demnach stand Belbo schon damals in Kontakt mit Doktor Wagner. Ich frage mich, ob es wohl jener Abend gewesen war, an dem Wagner (französisch auszusprechen: Wagnère) Belbo gratis analysierte, ohne daß einer der beiden es wußte.
Aber vielleicht war das auch später gewesen.
Jedenfalls war es damals das erste Mal gewesen, daß Belbo auf seine Kindheit in *** zu sprechen kam. Merkwürdig, daß er dabei von Fluchten erzählte — fast glorreichen Fluchten, im Glorienschein der Erinnerung, doch ins Gedächtnis ge-kommenen, nachdem er — mit mir, aber vor meinen Augen, unrühmlich, wenn auch klug — erneut geflohen war.
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Danach sagte Bruder Etienne de Provins, vor die genannten Kommissare geführt und von diesen
gefragt, ob er den Orden verteidigen wolle, nein, das wolle er nicht, und so ihn die Meister verteidigen wollten, sollten sie das nur tun, aber er sei vor der Verhaftung nur ganze neun Monate lang
im Orden gewesen.«
Aussage am 27.11.1309
Unter Abulafias files hatte ich einen Text gefunden, der von drei anderen Fluchten erzählte. Daran dachte ich vorgestern abend im Periskop, als ich es im Dunkeln knacken, knistern und rascheln hörte — und mir sagte, bleib ruhig, das ist die Art, wie Museen, Bibliotheken, alte Paläste nachts miteinander sprechen, das sind nur Schränke, die sich setzen, Rahmen, die auf die abendliche Feuchtigkeit reagieren, langsam abbröckelnder Putz und rissig werdendes Mauer-werk. Du kannst nicht fliehen, sagte ich mir, denn schließ-
lich bist du ja hergekommen, um zu erfahren, was mit einem geschehen ist, der versucht hat, einer Reihe von Fluchten ein Ende zu setzen, indem er einen Akt sinnlosen (oder verzweifelten) Mutes beging, vielleicht um jene so oft hinausgescho-bene Begegnung mit der Wahrheit herbeizuzwingen.
Filename: Canaletto
Bin ich vor einem Polizeiangriff weggelaufen, oder erneut vor der Geschichte? Und was wäre der Unterschied? Bin ich aus morali-schen Gründen zur Demonstration gegangen, oder um mich ein weiteres Mal vor der GELEGENHEIT auf die Probe zu stellen?
Sicher, ich habe die großen Gelegenheiten verpaßt, weil ich zu früh gekommen war, oder zu spät, aber schuld war mein Geburts-jahr. Ich wäre gern auf jenem Maisfeld gewesen, um zu schießen, auch auf die Gefahr hin, dabei meine Großmutter zu treffen. Ich war nicht aus Feigheit abwesend, sondern aus Altersgründen.
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Daccord. Und bei der Demonstration? Da bin ich erneut aus Altersgründen geflohen, dieser Kampf ging mich nichts an. Aber ich hätte ein Risiko eingehen können, auch ohne Enthusiasmus, nur um mir zu beweisen, daß ich damals auf dem Maisfeld zu wählen gewußt hätte. Hat es Sinn, die falsche Gelegenheit zu wählen, um sich zu überzeugen, daß man die richtige gewählt hätte? Wer weiß, wie viele von denen, die sich heute dem Kampf gestellt haben, es so machten. Aber eine falsche Gelegenheit ist nicht die GELEGENHEIT.
Kann man feige sein, weil einem scheint, daß der Mut der andern in keinem Verhältnis zur Nichtigkeit des Anlasses steht?
Wenn ja, dann macht Klugheit feige. Und so verpaßt man die gute Gelegenheit, wenn man das Leben damit verbringt, auf sie zu lauern und über sie nachzugrübeln. Die Gelegenheit ergreift man instinktiv, und im Augenblick weiß man noch nicht, daß es die GELEGENHEIT ist. Vielleicht habe ich sie ja schon einmal ergriffen und weiß es bloß nicht? Wie kommt man dazu, ein schlechtes Gewissen zu haben und sich als Feigling zu fühlen, bloß weil man im falschen Jahrzehnt geboren ist? Antwort: du fühlst dich als Feigling, weil du einmal ein Feigling gewesen bist.
Und wenn ich auch damals der GELEGENHEIT ausgewichen wäre, weil ich sie als inadäquat empfand?
Das Haus in *** beschreiben, wie es einsam auf dem Hügel zwischen den Weingärten steht sagt man nicht, die Hügel hätten die Form von Brüsten? , und dann die Straße,
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