Das Foucaultsche Pendel
Herodots...« Er klappte es wieder zu. »Haben Sie das gelesen?«
»Rasch überflogen, in den letzten Tagen«, sagte Belbo.
Agliè gab ihm das Manuskript zurück »Nun gut, bestätigen Sie mir, ob mein Resümee korrekt ist.« Er setzte sich hinter den Schreibtisch, steckte die Hand in seine Westentasche, zog das Pillendöschen hervor, das ich schon in Brasilien gesehen hatte, drehte es in seinen schmalen gepflegten Fingern, die eben noch seine Lieblingsbücher gestreichelt hatten, hob die Augen zu den Deckengemälden und schien einen Text zu rezitieren, den er seit langem kannte.
»Der Autor dieses Buches müsste daran erinnern, daß 1864 Piazzi Smyth die heiligen und esoterischen Maße der Pyramiden entdeckte. Erlauben Sie mir, nur die abgerundeten ganzen Zahlen zu nennen, in meinem Alter beginnt die Erinnerung etwas nachzulassen... Es ist singulär, daß ihre Basis ein Quadrat bildet, dessen Seite 232 Meter misst. Die Höhe war ursprünglich 148 Meter. Rechnen wir das in heilige ägyptische Ellen um, so haben wir eine Basis von 366 Ellen, also die Anzahl der Tage eines Schaltjahres. Für Piazzi Smyth ergibt die Höhe multipliziert mit zehn hoch neun die Entfernung Erde-Sonne: 148 Millionen Kilometer. Eine gute Annäherung für jene Zeit, wenn man bedenkt, daß die Entfernung heute auf 149,5 Millionen berechnet wird, und es ist nicht gesagt, daß die Modernen recht haben. Die Basis geteilt durch die Breite eines ihrer Steine ergibt 365. Der Umfang der Basis beträgt 931 Meter. Geteilt durch die doppelte Höhe ergibt das 3,14, die Zahl n. Fantastisch, nicht wahr?«
Belbo lächelte verwirrt. »Unglaublich! Aber sagen Sie, wie haben Sie das... «
»Sei still, Jacopo, lass Doktor Agliè weitersprechen!« fiel ihm Diotallevi ins Wort.
Agliè dankte ihm mit einem wohlerzogenen Lächeln. Dann sprach er weiter mit zur Decke gerichtetem Blick, doch mir schien, daß seine Inspektion weder müßig noch zufällig war. Seine Augen folgten einer Spur, als läsen sie aus den Bildern dort oben ab, was er aus den Tiefen seines Gedächtnisses auszugraben vorgab.
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Von der Spitze zur Basis beträgt der Inhalt der Großen Pyramide, in ägyptischen Kubikzoll gemessen, ungefähr 161.000.000.000. Wie viele menschliche Seelen mögen von Adam bis heute auf der Erde gelebt haben? Eine gute Annäherung wäre etwas zwischen 153.000.000.000 und 171.900.000.000...
Piazzi Smyth, Our Inheritance in the Great Pyramid, London,Isbister, 1880, p. 583
»Ich nehme an, Ihr Autor legt dar, daß die Höhe der Cheopspyramide gleich der Quadratwurzel aus der Zahl ist, die sich aus der Gesamtfläche ihrer Seiten ergibt. Natürlich sind die Maße in Fuß zu nehmen, was der ägyptischen und hebräischen Elle näherkommt, und nicht in Meter, denn das Meter ist ein abstraktes Maß, erfunden in der modernen Zeit. Die ägyptische Elle beträgt umgerechnet 1,728 Fuß. Wenn wir nicht die genauen Höhen haben, müssen wir uns auf das Pyramidion beziehen, die kleine Pyramide, die oben auf der Großen stand und ihre Spitze bildete. Sie war aus Gold oder anderem Metall, das in der Sonne glänzte. Nehmen Sie also die Höhe des Pyramidions, multiplizieren Sie sie mit der Höhe der ganzen Pyramide, multiplizieren Sie alles mit zehn hoch fünf, und Sie erhalten die Länge des Äquators. Damit nicht genug, wenn Sie den Umfang der Basis nehmen und ihn mit vierundzwanzig hoch drei geteilt durch zwei multiplizieren, erhalten Sie den mittleren Radius der Erde. Und die von der Basis der Pyramide bedeckte Fläche multipliziert mit sechsundneunzig mal zehn hoch acht ergibt hundert- sechsundneunzig Millionen achthundertzehntausend Quadratmeilen, also die Oberfläche der Erde. Ist es so?«
Belbo liebte es, seine Verblüffung mit einer Formel zu äußern, die er in der Cinemathek gelernt hatte, als dort die Originalfassung von Yankee Doodle Dandy mit James Cagney lief. »I'm flabbergasted!« Und so sprach er nun. Offensichtlich kannte Agliè auch das kolloquiale Englisch recht gut, denn er konnte seine Befriedigung nicht verhehlen, ohne sich dieses Aktes der Eitelkeit zu schämen. »Liebe Freunde«, erklärte er, »wenn ein Herr, dessen Name mir nicht bekannt ist, ein Opus über die Geheimnisse der Pyramiden zusammenschreibt, kann er darin nichts anderes sagen, als was jedes Kind heute weiß. Es hätte mich sehr gewundert, wenn er etwas Neues vorgebracht hätte.«
»Demnach...«, Belbo zögerte, »sagt dieser Herr lediglich gesicherte Wahrheiten?«
»Wahrheiten?«
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