Das Foucaultsche Pendel
›vainjance‹ nahe: vengeance, Rache.«
»Rache wofür?«
»Meine Herren! Die gesamte Templermystik, vorn Prozess bis heute, dreht sich um den Plan einer Rache für Jacques de Molay. Ich halte nicht viel von den Riten der Freimaurer, aber selbst sie, eine bürgerliche Karikatur der Tempelritterschaft, sind noch ein, wenn auch degenerierter, Reflex davon. Und einer der Rittergrade in der Freimaurerei nach schottischem Ritus ist der des Ritters Kadosch, nach dem hebräischen Wort für Rache.«
»Okay, die Templer sinnen also auf Rache. Und weiter?«
»Wie viel Zeit wird dieser Racheplan in Anspruch nehmen? Die chiffrierte Botschaft hilft uns, die unchiffrierte zu verstehen. Verlangt werden sechs Ritter sechsmal an sechs verschiedenen Orten, sechsunddreißig geteilt in sechs Gruppen. Dann heißt es: jedes Mal zwanzig, und hier ist etwas nicht klar, aber in Ingolfs Abschrift sieht es aus wie ein a. Jedes Mal zwanzig Jahre, habe ich daraus deduziert, und sechsmal zwanzig macht hundertzwanzig. Wenn wir den Rest der Botschaft betrachten, finden wir eine Liste von sechs Orten oder sechs Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Von einer ›Ordonation‹ ist die Rede, einem Plan, einem Projekt, einem Vorgehen, das befolgt werden muss. Und es heißt, dass die ersten zu einem ›Donjon‹ gehen sollen, also zu einer Burg, die zweiten zu einem anderen Ort, und so weiter bis zum sechsten. Infolgedessen sagt uns das Dokument, dass es noch sechs andere versiegelte Dokumente geben muss, verstreut über diverse Punkte, und es scheint mir evident, dass die Siegel eines nach dem anderen erbrochen werden sollen, im Abstand von jeweils hundertzwanzig Jahren ...«
»Aber warum jedes Mal zwanzig Jahre?« fragte Diotallevi.
»Nun, diese Ritter der Rache sollen alle hundertzwanzig Jahre eine Mission an einem bestimmten Ort erfüllen. Es handelt sich um eine Form von Stafettenlauf. Klar ist, dass nach der Johannisnacht 1344 sechs Ritter aufbrechen und sich jeder an einen der sechs im Plan vorgesehenen Punkte begeben. Aber der Hüter des ersten Siegels kann schlechterdings nicht hundertzwanzig Jahre lang weiterleben. Die Sache ist daher so zu verstehen, dass jeder Hüter eines jeden Siegels zwanzig Jahre im Amt bleiben soll, um dann das Kommando an einen Nachfolger zu übergeben. Zwanzig Jahre ist ein vernünftiger Zeitraum, sechs Hüter pro Siegel, jeder zwanzig Jahre im Dienst, gewährleisten, dass im hundertzwanzigsten Jahr der sechste Siegelbewahrer, sagen wir: eine Instruktion lesen und sie dem ersten Bewahrer des zweiten Siegels übergeben kann. Deshalb spricht die Botschaft im Plural: Die einen dahin, die andern dorthin ... Jeder Ort soll sechsmal innerhalb von hundertzwanzig Jahren sozusagen kontrolliert werden. Rechnen Sie nun das alles zusammen: vom ersten bis zum sechsten Ort sind es fünf Übergaben, je eine nach hundertzwanzig Jahren, macht sechshundert Jahre. Addieren Sie sechshundert zu 1344, und herauskommt 1944. Was auch durch die letzte Zeile bestätigt wird. Deren Bedeutung ganz sonnenklar ist«
»Nämlich?«
»Die letzte Zeile heißt: ›dreimal sechs vor dem Fest (der) Großen Hure.‹ Auch hier ein Zahlenspiel, denn die Quersumme von 1944 ist genau achtzehn. Achtzehn ist dreimal sechs, und diese neue wunderbare Zahlenkoinzidenz suggeriert den Templern eine weitere höchst subtile Anspielung. 1944 ist das Jahr, in dem der Plan sich erfüllen soll. In Hinblick worauf? Nun, natürlich auf das Jahr Zweitausend! Die Templer glauben, dass am Ende des zweiten Jahrtausends ihr Jerusalem kommt, ein irdisches Jerusalem, das Anti-Jerusalem. Man verfolgt sie als Häretiker? Wohlan, aus Hass auf die Kirche identifizieren sie sich mit dem Antichrist. Bekanntlich ist die Zahl 666 in der gesamten okkulten Tradition die Zahl des Großen Tieres. Das Jahr Sechshundertsechsundsechzig, das Jahr des Tieres, ist das Jahr Zweitausend, in welchem die Rache der Templer triumphieren wird, das Anti-Jerusalem ist das Neue Babylon, und deshalb ist 1944 das Jahr des Festes der Grande Pute, der Großen Hure von Babylon, von der die Apokalypse spricht! Die Anspielung auf die Zahl 666 ist eine Provokation, eine trotzige Kriegergeste. Ein Bekenntnis zur eigenen Andersartigkeit, würde man heute sagen ... Schöne Geschichte, nicht wahr?«
Er sah uns mit feuchten Augen an, und feucht glänzten auch seine Lippen und sein Schnurrbart, indes seine Hände zärtlich über den Ordner strichen.
»Okay«, sagte Belbo, »hier werden die Etappen eines Plans
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