Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
für Adrian korrekt zu übersetzen.
Chester Square, London, 17. Juni 1824
Lieber Victor,
ich denke, Sie haben von dem Zerwürfnis meiner Stiefschwester Claire mit Lord Gordon Noel Byron Kenntnis erlangt und ich begehe keine Indiskretion, wenn ich nun Ihnen gegenüber in dieser Angelegenheit sehr offen bin. Es geht nicht anders, möchte ich Ihnen doch um jeden Preis meine Bitte unterbreiten. Hätten Sie mir damals, als Sie sich aufmachten, nach Ihrem Geschöpf zu suchen, nicht die Aufgabe übertragen, Ihre Aufzeichnungen bis zu Ihrer Rückkehr zu verwahren, ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, das zu tun, was ich dann um der Liebe willen so eigenmächtig und eigennützig tat. Das ist denn auch die einzige Entschuldigung, die ich zu meiner Verteidigung vorbringen kann: dass es allein aus Liebe und für die Liebe geschah. Sie, Victor, der Sie Ihre Braut unwiederbringlich auf so grausame Weise verloren haben, werden es gewiss am ehesten nachfühlen können, was es bedeutet, einen geliebten Menschen kalt und ohne Puls vor sich liegen zu sehen. Seiner Stimme, seines Lachens und seiner Seele beraubt.
Anfangs noch, als Byron mir heimlich den Hof machte, habe ich versucht, es nicht so weit kommen zu lassen, schon aus Rücksicht auf Claire. Ich bemühte mich, seine Avancen als neuerlichen Ausbruch seiner gewöhnlichen Lust an der Eroberung zu betrachten. Aber ich war zu schwach, und wer will sich schon gegen die eine große Liebe stellen. Ja, lieber Victor, Sie sehen recht: Ich war wie von Sinnen vor Liebe zu ihm und bin es noch.
Als drei meiner Kinder starben, da dachte ich, ich müsse ebenfalls sterben; als mein Gatte Percy in Italien ertrank, da war ich sicher, es könne schlimmer nicht mehr kommen. Doch als Byron dann so jung und sinnlos dahinging, da war ich nicht mehr in der Lage, noch mehr Tod und Verderben zu ertragen. Ich sorgte sogleich dafür, dass man ihn rasch und getreu der von Ihnen verfassten Anleitung konservierte – sein Herz und seinen Leib getrennt, so wie Sie es in Ihren Aufzeichnungen beschrieben.
Vielleicht sind Sie nun der Meinung, ich habe Ihr Vertrauen missbraucht, indem ich Ihre Aufzeichnungen zu meinem Vorteil nutzte. Doch ich hoffe, Sie verstehen mein Dilemma. Wenn ich überhaupt eine Wahl hatte, dann die, entweder Wort zu halten und Ihr Lebenswerk unangetastet zu lassen oder es zu brechen und damit ein wertvolles Leben zu retten. Wie auch immer Sie mich beurteilen mögen, bedenken Sie, dass ich es aus Liebe tat. Er strotzte nur so vor Kraft, ehe er nach Griechenland ging. Und er war doch so voller Leben. Ich konnte Byron unmöglich dem Tod anheimgeben.
Victor! Lieber, guter Victor, ich bitte Sie! Ich flehe Sie an! Tun Sie es für mich! Holen Sie ihn ins Leben zurück.
Herzlichst
Ihre Mary Wollstonecraft Shelley
Talbot ließ den Brief sinken. Das war schier unglaublich. Wären das Datum und die im Brief erwähnten Personen nicht gewesen, er hätte angenommen, es müsse sich dabei um einen bislang unveröffentlichten Teil des berühmten Frankenstein- Romans handeln. So aber war es eine Sensation, und Talbot war sich sofort der enormen Brisanz ihrer Entdeckung bewusst. Adrian dagegen wurde ganz und gar nicht schlau daraus. Was war das denn für eine Sprache? Und wer zum Henker waren Lord Byron, Percy und diese Claire?
»Das ist doch wohl ein Scherz. Soll das heißen, Frankenstein hat es wirklich gegeben?«, fragte er schließlich. »Dieses Monster mit der riesigen Narbe auf der Stirn und den Metallbolzen am Hals?«
»Sieht ganz so aus«, sagte Talbot. »Aber mit Frankenstein ist nicht das Monster gemeint, sondern der Wissenschaftler, der es erschaffen hat. Dr. Victor Frankenstein. Das Geschöpf selbst hat keinen Namen.«
»Echt?« Adrian blinzelte verwirrt. »Aber das muss doch ein Scherz sein, oder?«
»Ich fürchte, nein.« Zwei Tote innerhalb weniger Tage waren ganz und gar nichts Lustiges, dachte Talbot, sprach es jedoch nicht aus. Stattdessen sagte er: »Lass uns mal sehen, ob wir nicht noch mehr erfahren können.«
Es gab einen zweiten Brief. Er war mit einem viel späteren Datum versehen.
Chester Square, London, 13. Oktober 1850
Lieber Victor,
ich spüre, wie mich allmählich die Kraft verlässt. Sie sind jetzt seit mehr als 35 Jahren fort, und ich fürchte, ich muss mich damit abfinden, dass ich Sie in diesem Leben nicht wiedersehen werde. Byron ruht nun schon fast 26 Jahre ohne sein Herz in der Familiengruft in Hucknall. Aber manchmal sehe ich
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