Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
Stadt im Wald.
Es sah vielversprechend aus. Geradezu perfekt.
Millycent wählte die Nummer und wartete, bis sich jemand meldete. Dann setzte sie den Lügendetektor auf die Hörmuschel und sagte in akzentfreiem Deutsch: »Guten Abend, mit wem spreche ich bitte?«
»Hier ist das Hotel Zum wilden Eber« , antwortete eine Stimme am anderen Ende der Leitung. »Sie sprechen mit Sarah Mertens. Was kann ich für Sie tun?«
Das war selbstverständlich nur ein Test gewesen, um einen Vergleichswert zu erhalten. Die Anzeige des Promaators leuchtete grün. Die Dame am Telefon hatte offensichtlich die Wahrheit gesagt.
»Mein Mann und ich, wir würden gern ein paar romantische Tage bei Ihnen verbringen«, flötete Millycent mit einem unüberhörbaren Lächeln in der Stimme und schaute derweil Maxwell Purdy an. Der verdrehte die Augen und wandte sich kopfschüttelnd ab; allerdings nur, damit Milly nicht sah, wie er errötete. »Hätten Sie vielleicht kurzfristig noch ein Zimmer frei?«
»Mit kurzfristig meinen Sie morgen, nehme ich an?«
»Heute oder morgen. Ganz egal.«
»Einem Augenblick bitte, ich will mal nachsehen.«
Millycent hatte den Lautsprecher eingeschaltet, sodass alle Anwesenden die Antworten hören konnten. Papiere raschelten. Dann sagte Sarah Mertens: »Hören Sie? Nun, heute sieht es schlecht aus. Da sind wir ausgebucht. Aber Sie haben Glück. Morgen werden einige Zimmer frei. Wie lange möchten Sie denn bleiben?«
Der Lichtkranz der Leuchtdioden des Promaators leuchtete in beständigem Grün. Zeit, einen Vorstoß zu wagen.
»Vier oder fünf Tage«, sagte Millycent. »Ein Freund aus dem Vereinigten Königreich hat uns Ihr Hotel empfohlen. Er ist aus dem Schwärmen gar nicht mehr rausgekommen. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn. Möglicherweise ist er sogar noch bei Ihnen.«
»Aus dem Vereinigten Königreich«, wiederholte Sarah Mertens mit stockender Stimme. Die Anzeige des Promaators verfärbte sich gelb. Ein deutliches Zeichen, dass sich der Sprecher am anderen Ende der Leitung in Habachtstellung befand.
»Ja«, sagte Millycent, die sah, wie Purdy die Hände vors Gesicht schlug, abrupt aufstand und wild mit den Armen fuchtelnd den Raum verließ. Sofort war ihr klar, welchen Fehler sie gemacht hatte. Im Stillen verfluchte sie sich dafür, den sperrigen und für Festlandeuropäer unüblichen Ausdruck »Vereinigtes Königreich« benutzt zu haben. Warum, verdammt, hatte sie nicht einfach Großbritannien oder England gesagt? »Sein Name ist Talbot«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Lawrence Talbot. Kennen Sie ihn?«
Schweigen. Zwei, drei Sekunden Totenstille.
Millycent schnippte mit dem Zeigefinger gegen den Hörer. »Hallo, sind Sie noch da?«
»Äh … Jaja, natürlich. Entschuldigen Sie. Ich war nur abgelenkt. Ein Gast wollte … wollte seine Schlüssel haben.« Der um den Lautsprecher angeordnete Kreis aus Leuchtdioden färbte sich rot. Sarah Mertens hatte gelogen.
»Ist ja nicht so schlimm. Und, kennen Sie nun meinen Freund Lawrence Talbot?«
»Nein.« Die Leuchtdioden blieben rot. »Nein, tut mir leid. Ich kann mich beim besten Willen nicht an ihn erinnern.«
»Macht ja nichts«, sagte Millycent. »Es hätte ja sein können, nicht wahr? Aber wer kann sich schon all die Namen und Gesichter merken?«
»Da sagen Sie was. Wir haben so viele Gäste, da kann einem schon mal einer durchgehen«, log Sarah und der Promaator zeigte es Millycent in aller Deutlichkeit an.
»Demnach wohnt mein Freund Lawrence gegenwärtig nicht in Ihrem Haus.«
»Nein«, log Sarah weiter. »Nein, das tut er nicht. Soll ich trotzdem ein Doppelzimmer für Sie reservieren?«
»Ja, bitte.«
»Auf welchen Namen?«
»Müller. Max Müller und Frau. Haben Sie vielen Dank. Bis morgen.« Millycent legte auf und schaltete den Promaator aus. »Er ist in diesem Hotel«, sagte sie. »Sie hat eindeutig gelogen. Los geht’s, Maxwell! Wir haben ihn.«
Hotel »Zum wilden Eber«, Ingolstadt
Wie sich herausstellte, waren die Legende des Gebäudeplans und das Notizbuch in deutscher Sprache abgefasst. EHEM. ANATOMIE, INGOLSTADT stand in Großbuchstaben am oberen Rand der Zeichnung. Die losen Seiten waren allerdings auf Englisch beschrieben. Es waren zwei Briefe. Auch wenn sich deren Bedeutung nicht im Detail erklärte, so ließ sich aus ihnen zumindest schließen, was es mit den übrigen Papieren auf sich hatte. Talbot nahm den ersten Brief zur Hand, überflog ihn einmal und las ihn dann laut vor, wobei er sich Mühe gab, ihn
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