Das fremde Gesicht
umgeschmissen und ist davongestürmt. Ich hab’ sie seitdem nicht wiedergesehen.«
Grolier stand auf, legte ihre Hand auf den Kaminsims und lehnte sich mit der Stirn dagegen. »Ich hab’ gestern abend mit meinem Anwalt gesprochen. Er begleitet mich morgen nachmittag nach New York, um Annies Leiche zu identifizieren und dafür zu sorgen, daß sie hierher überführt wird. Es tut mir leid wegen der Unannehmlichkeiten, die das für Sie und Ihre Mutter mit sich bringen wird.«
Meghan hatte nur noch eine Frage, die sie stellen mußte.
»Warum haben Sie neulich nachts diese Nachricht für Dad hinterlassen?«
»Weil ich dachte, falls er noch leben sollte und der Telefonanschluß noch funktioniert, daß er ihn dann vielleicht aus Gewohnheit überprüft. Es war meine Methode, ihn in Notfällen zu erreichen. Er hat den Anrufbeantworter immer früh am Morgen abgehört.« Sie wandte sich Meghan wieder zu.
»Lassen Sie sich von niemandem weismachen, daß Edwin Collins dazu fähig ist, irgendwen zu töten, denn das stimmt nicht.« Sie schwieg eine Weile. »Aber er ist dazu fähig, ein neues Leben anzufangen, das Sie und Ihre Mutter nicht einschließt. Oder Annie und mich.«
Frances Grolier wandte sich wieder ab. Es blieb nichts mehr zu sagen übrig. Meghan warf einen letzten Blick auf die Bronzebüste ihres Vaters und ging, wobei sie leise die Tür hinter sich schloß.
49
Sobald Kyle am Mittwoch morgen im Schulbus war, machte sich Mac auf den Weg nach Trenton, New Jersey, zum Valley Memorial Hospital.
Beim Essen am Abend zuvor hatte Catherine, als Kyle für eine Weile vom Tisch weg war, rasch Mac und Phillip von Megs Anruf unterrichtet. »Ich weiß noch nicht viel, außer daß diese Frau eine langjährige Beziehung mit Edwin hatte; sie glaubt, daß er noch lebt, und das tote Mädchen, das wie Meghan aussieht, war ihre Tochter.«
»Du scheinst das erstaunlich gut zu verkraften«, war Phillips Kommentar gewesen, »oder willst du es nur noch nicht wahrhaben?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich fühle«, hatte Catherine geantwortet, »und ich mache mir Sorgen um Meg. Ihr wißt ja, was sie für ihren Vater empfunden hat. Ich hab’ noch nie jemanden gehört, der so verletzt klang wie sie, als sie heute anrief.« Dann war Kyle zurückgekehrt, und sie wechselten das Thema.
Während er auf der Route 684 durch Westchester nach Süden fuhr, versuchte Mac, seine Gedanken von Meg loszureißen. Sie hatte Edwin Collins abgöttisch geliebt, eine echte Vatertochter. Er wußte, daß diese letzten Monate, seit sie ihren Vater für tot hielt, die reinste Hölle für sie waren. Wie oft schon hatte Mac sie bitten wollen, sich bei ihm auszusprechen, anstatt alles in sich hineinzufressen. Vielleicht hätte er alles daransetzen sollen, sie aus der Reserve zu locken. Mein Gott, wieviel Zeit hatte er doch damit vergeudet, seine Wunden zu lecken, weil Ginger ihn verlassen hatte.
Jetzt sind wir wenigstens ehrlich, sagte er sich. Alle haben gewußt, daß es ein Fehler war, daß du dich mit Ginger zusammengetan hast. Du hast es doch an der Reaktion gespürt, als die Verlobung bekanntgegeben wurde. Meg hatte den Mumm, es geradeheraus zu sagen, und sie war erst neunzehn. In ihrem Brief hatte sie geschrieben, daß sie ihn liebte und daß er eigentlich vernünftig genug sein müßte, um zu wissen, daß sie das einzig richtige Mädchen für ihn sei. »Warte auf mich, Mac«, hatte sie am Schluß geschrieben.
Er hatte lange nicht mehr an den Brief gedacht. Jetzt stellte er fest, daß er neuerdings sehr oft daran dachte.
Sobald Frances Grolier Anspruch auf Annies Leiche erhob, würde die Öffentlichkeit unweigerlich erfahren, daß Edwin ein Doppelleben geführt hatte. Ob Catherine dann wohl beschloß, nicht mehr in der Gegend leben zu wollen, wo alle Edwin gekannt hatten, sondern lieber woanders von vorne anzufangen? Es konnte durchaus so kommen, vor allem, falls sie den Gasthof verlor. Das würde bedeuten, daß Meg dann auch nicht mehr da wäre. Die Vorstellung jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
Du kannst die Vergangenheit nicht ändern, dachte Mac, aber du kannst etwas für die Zukunft tun. Edwin Collins finden, falls er noch lebte, oder aber herausfinden, was mit ihm passiert war, falls er nicht mehr lebte. Das würde Meg und Catherine aus der quälenden Ungewißheit erlösen.
Den Arzt aufzutreiben, mit dem Helene Petrovic möglicherweise liiert war, als sie im Dowling Center von Trenton arbeitete, mochte der erste Schritt zur
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