Das fremde Gesicht
ihrem Pult ging es zu den Sprechzimmern der leitenden Mitarbeiter. Die Tür, die dorthin führte, ging auf, und eine der neuen Sekretärinnen kam mit energischem Schritt heraus. Sie hielt gerade lange genug bei Marges Pult inne, um ihr zuzuflüstern: »Da ist was im Busch. Frau Dr. Petrovic ist grade aus Dr. Mannings Zimmer rausgekommen. Sie ist völlig aufgelöst, und als ich rein bin, sah er aus, als ob er gleich einen Herzanfall kriegt.«
»Was glauben Sie denn, was da los ist?« fragte Marge.
»Ich weiß nicht, aber sie räumt ihren Schreibtisch aus.
Ob sie wohl gekündigt hat – oder gefeuert worden ist?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, daß sie freiwillig hier weggeht«, sagte Marge ungläubig. »Das Laboratorium ist ihr ganzes Leben.«
Als Meghan am Montag abend ihr Auto holte, hatte Bernie gesagt: »Bis morgen, Meghan.«
Sie hatte ihn dann informiert, daß sie für eine Weile nicht im Sender sein würde, da sie einen Sonderauftrag in Connecticut hätte. Bernie das mitzuteilen war einfach gewesen, aber auf der Heimfahrt quälte sie sich mit der Frage, wie sie ihrer Mutter beibringen sollte, daß sie vom Nachrichtenteam ausgeschlossen war, nachdem sie die Stelle gerade erst bekommen hatte.
Sie mußte es einfach so darlegen, daß der Fernsehsender den Sonderbericht wegen der in Kürze bevorstehenden Geburt des Anderson-Babys schnell fertig haben wollte.
Mom geht es schon schlecht genug ohne die zusätzliche Sorge, daß ich möglicherweise als Mordopfer ausersehen war, dachte Meghan, und sie wäre am Boden zerstört, wenn sie etwas von dem Zettel mit Dads Handschrift wüßte.
Sie fuhr von der Interstate 84 auf die Landstraße Route 7
ab. Einige Bäume hatten noch Laub, doch die leuchtenden Farben von Mitte Oktober waren verblichen. Der Herbst war immer ihre liebste Jahreszeit gewesen, überlegte sie.
Aber nicht dieses Jahr.
Ein Teil ihres Gehirns, der juristische Teil, der Bereich, der Gefühle und Beweislage voneinander trennte, pochte darauf, daß sie anfing, sämtliche Gründe zu erörtern, weshalb das Stück Papier mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer in die Tasche der Toten geraten sein mochte. Es ist nicht illoyal, alle Möglichkeiten zu untersuchen, ermahnte sie sich hartnäckig. Ein guter Anwalt für die Verteidigung muß den Fall immer auch mit den Augen des Anklägers betrachten.
Ihre Mutter war all die Unterlagen in dem Wandsafe zu Hause durchgegangen. Sie wußte jedoch, daß ihre Mutter nicht den Schreibtischinhalt im Arbeitszimmer ihres Vaters untersucht hatte. Es war an der Zeit, das zu tun.
Sie hoffte, daß sie in der Nachrichtenabteilung alles zufriedenstellend geregelt hatte. Bevor sie ging, hatte Meg eine Liste ihrer laufenden Projekte für Bill Evans zusammengestellt, der bei PCD in Chicago eine vergleichbare Aufgabe wahrnahm und jetzt im Nachrichtenteam für sie einspringen würde, solange in dem Mordfall ermittelt wurde.
Ihr Treffen mit Dr. Manning war für den nächsten Tag um elf Uhr vereinbart. Sie wollte ihn fragen, ob sie an einer Einführungssitzung zur Aufklärung und Beratung teilnehmen könnte, als wäre sie eine neue Patientin.
Während einer schlaflosen Nacht war ihr noch etwas anderes eingefallen. Es würde der Sache einen besonderen Anstrich geben, ein paar Szenen aufzunehmen, wie Jonathan seiner Mutter half, sich auf das neue Baby vorzubereiten. Sie fragte sich, ob die Andersons wohl eigene Videoaufnahmen von Jonathan als Neugeborenem besaßen.
Als sie daheim ankam, war das Haus leer. Das konnte nur bedeuten, daß ihre Mutter im Gasthof war. Gut, dachte Meghan. Dort ist sie am besten aufgehoben. Meg schleppte den Faxapparat hinein, den sie ihr beim Sender geliehen hatten. Sie würde ihn an den zweiten Telefonanschluß im Arbeitszimmer ihres Vaters anschließen. Dann werde ich wenigstens nicht von verrückten Mitteilungen mitten in der Nacht aufgeweckt, dachte sie, als sie die Tür zumachte und abschloß und einige Lichter gegen die rasch hereinbrechende Dunkelheit anzuknipsen begann.
Meghan seufzte, ohne sich dessen bewußt zu sein, während sie durch das Haus wanderte. Es war ihr seit langem ans Herz gewachsen. Die Räume waren nicht groß. Ihre Mutter beschwerte sich besonders gern darüber, daß alte Bauernhäuser von außen stets größer aussahen, als sie es tatsächlich waren. »Dieses Haus ist eine optische Täuschung«, klagte sie dann. In Meghans Augen jedoch hatte die Intimität der Räume einen ganz eigenen Charme.
Sie mochte das Gefühl
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