Das fremde Gesicht
des leicht unebenen Bodens mit den breiten Dielen, den Anblick der offenen Kamine und Flügeltüren und der eingebauten Eckschränke im Eßzimmer. In ihren Augen bildeten sie den idealen Hintergrund für die antiken Ahornmöbel mit ihrer wunderbar warmen Patina, die tiefen bequemen Polster, die farbenfrohen handgeknüpften Teppiche.
Dad war so häufig weg, dachte sie, während sie die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete, einem Raum, den sie und ihre Mutter seit dem Abend des Brückenunglücks mieden. Aber man wußte immer, daß er wiederkam, und mit ihm gab es so viel Spaß.
Sie knipste die Schreibtischlampe an und setzte sich in den Drehstuhl. Sein Zimmer war das kleinste im Erdgeschoß. Der Kamin war von Bücherregalen umgeben.
Der Lieblingssessel ihres Vaters, kastanienbraunes Leder mit einem dazu passenden Polsterschemel, hatte auf der einen Seite eine Stehlampe und auf der anderen einen runden Chippendale-Tisch.
Auf dem Tisch wie auf dem Kaminsims standen Familienbilder gruppiert: das Hochzeitsporträt ihrer Mutter und ihres Vaters; Meghan als Baby; sie alle zu dritt, als sie heranwuchs; der alte Pat mit stolzgeschwellter Brust vor dem Drumdoe Inn. Der Beleg einer glücklichen Familie, dachte Meghan mit einem Blick von der einen zu einer weiteren Gruppe eingerahmter Schnappschüsse.
Sie nahm das Bild von Aurelia, der Mutter ihres Vaters, in die Hand. In den frühen Dreißigern aufgenommen, als sie vierundzwanzig war, zeigte es deutlich, daß sie eine schöne Frau gewesen war. Volles gewelltes Haar, große, ausdrucksvolle Augen, ovales Gesicht, schlanker Hals, Zobelfelle über ihrem Kostüm. Ihr Ausdruck war von der verträumten, gestellten Art, wie es die Fotografen jener Tage bevorzugten. »Ich hatte die hübscheste Mutter in Pennsylvania«, sagte ihr Vater gern, um hinzuzufügen,
»und jetzt habe ich die hübscheste Tochter in Connecticut.
Du siehst aus wie sie.« Seine Mutter war gestorben, als er noch ein Baby war.
Meghan konnte sich nicht daran erinnern, je ein Bild von Richard Collins zu Gesicht bekommen zu haben. »Wir haben uns nie vertragen«, hatte ihr Vater sie knapp beschieden. »Je weniger ich ihn gesehen hab’, um so besser.«
Das Telefon klingelte. Es war Virginia Murphy, die rechte Hand ihrer Mutter im Gasthof. »Catherine hat mich gebeten, nachzufragen, ob du da bist und ob du zum Essen rüberkommen willst.«
»Wie geht’s ihr, Virginia?« fragte Meghan.
»Ihr geht’s immer gut, wenn sie hier ist, und heute abend haben wir eine Menge Reservierungen. Mr. Carter kommt um sieben. Er möchte mit deiner Mutter zusammen essen.«
Hmm, dachte Meghan. Sie hatte schon lange den Verdacht, daß Phillip Carter allmählich eine gewisse Schwäche für Catherine Collins entwickelte. »Sagst du Mom bitte, daß ich morgen in Kent ein Interview habe und noch eine Menge dafür recherchieren muß? Ich mach’ mir hier was zurecht.«
Als sie auflegte, holte sie resolut ihre Geschäftsmappe hervor und zog all die Zeitungs- und Zeitschriftenartikel über In-vitro-Befruchtung heraus, die ihr jemand vom Archiv im Sender zusammengestellt hatte. Sie runzelte die Stirn, als sie auf mehrere Fälle stieß, wo eine Klinik verklagt wurde, weil Tests ergaben, daß der Ehemann der Frau nicht der biologische Vater des Kindes war. »Ein ziemlich schlimmer Fehler, wenn einem so was unterläuft«, bemerkte sie laut und beschloß, daß dies ein Gesichtspunkt war, der bei einem Abschnitt der Sendung erwähnt werden sollte.
Um acht Uhr machte sie sich ein Sandwich und eine Kanne Tee und nahm beides mit ins Arbeitszimmer hinüber. Sie aß, während sie versuchte, das Informationsmaterial in sich aufzunehmen, das Mac ihr gegeben hatte. Es war, so befand sie, ein Intensivkurs über die Prozeduren künstlicher Fortpflanzung.
Das Klicken im Schloß kurz nach zehn bedeutete, daß ihre Mutter daheim war. Sie rief: »Grüß dich, ich bin hier drüben.«
Catherine Collins kam ins Zimmer geeilt. »Meggie, bist du in Ordnung?«
»Ja, klar. Wieso?«
»Gerade eben, als ich die Auffahrt raufkam, hatte ich plötzlich ein ganz komisches Gefühl wegen dir, daß irgendwas nicht gestimmt hat – fast wie eine Vorahnung.«
Meghan zwang sich zu einem amüsierten Grinsen, stand schnell auf und umarmte ihre Mutter. »Da hat auch was nicht gestimmt«, erklärte sie. »Ich hab’ versucht, mir die Geheimnisse der DNS anzueignen, und glaub mir, es ist verdammt schwer. Jetzt weiß ich, warum Schwester Elizabeth behauptet hat, ich hätte
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