Das fremde Gesicht
Messer, und das Salzfaß da sieht schmierig aus.«
»Ja, Ma’am.«
Sie ging in die Küche. Der frühere Küchenchef hatte sich im Juli nach zwanzig Jahren zur Ruhe gesetzt. Sein Nachfolger, Clive D’Arcette, war mit beeindruckender Branchenerfahrung angetreten, obwohl er erst sechsundzwanzig Jahre alt war. Nach vier Monaten kam Catherine zu dem Schluß, daß er eine gute zweite Geige abgab, mit der Leitung einer Küche aber überfordert war.
Er bereitete gerade die Lunch-Specials vor, als Catherine die Küche betrat. Sie machte ein ärgerliches Gesicht, als sie die Fettspritzer auf dem Herd bemerkte. Sie stammten eindeutig vom Abend zuvor. Der Mülleimer war nicht ausgeleert worden. Sie probierte die Sauce hollandaise.
»Warum ist die salzig?« fragte sie.
»Ich würde sie nicht salzig nennen, Mrs. Collins«, sagte D’Arcette in einem Tonfall, der nicht unbedingt höflich war.
»Ich aber schon, und wohl jeder, der sie bestellt.«
»Mrs. Collins, Sie haben mich hier als Küchenchef angestellt. Wenn ich nicht der Chef sein und das Essen auf meine Art zubereiten kann, dann läuft der Laden hier nicht.«
»Sie haben es mir sehr leicht gemacht«, entgegnete Catherine. »Sie sind gefeuert.«
Sie war dabei, sich eine Schürze umzubinden, als Virginia hereingeeilt kam. »Catherine, wo will Clive denn hin? Er ist gerade an mir vorbeigestürmt.«
»Zurück zur Kochschule, hoffe ich.«
»Du sollst dich doch ausruhen.«
Catherine wandte sich ihr zu. »Virginia, es ist eine Erlösung für mich, hier am Herd zu stehen, solange ich den Gasthof noch halten kann. Also, welche Tagesgerichte hat Escoffier für heute eingeplant?«
Sie servierten dreiundvierzig Lunchportionen sowie Sandwiches in der Bar. Es herrschte guter Betrieb. Als die Bestellungen weniger wurden, konnte Catherine in das Speisezimmer gehen. Mit ihrer langen weißen Schürze schritt sie von Tisch zu Tisch und hielt sich jedesmal eine Weile auf. Sie konnte die Fragen in den Augen der Gesichter sehen, die sie mit einem warmen Lächeln begrüßten.
Ich werfe den Leuten nicht vor, daß sie neugierig sind, bei all dem, was sie hören, dachte sie. Ich wäre es auch.
Aber das sind meine Freunde. Das ist mein Gasthof, und egal, welche Wahrheit zum Vorschein kommt, Meg und ich haben hier unseren Platz.
Catherine verbrachte den Spätnachmittag im Büro damit, die Bücher durchzugehen. Wenn die Bank bei einer Neufinanzierung mitmacht und ich meinen Schmuck verpfände oder verkaufe, stellte sie fest, dann könnte ich mindestens ein halbes Jahr länger durchhalten. Bis dahin wissen wir dann vielleicht etwas wegen der Versicherung.
Sie schloß die Augen. Wenn sie bloß nicht so töricht gewesen wäre, nach Pops Tod das Haus auf ihren und Edwins Namen eintragen zu lassen …
Warum habe ich das eigentlich gemacht? fragte sie sich.
Ich wollte nicht, daß Edwin das Gefühl hatte, in meinem Haus zu wohnen. Selbst als Pop noch lebte, hatte Edwin stets darauf bestanden, für die Nebenkosten und Reparaturen aufzukommen. »Ich muß das Gefühl haben, daß ich hierhergehöre«, hatte er gesagt. O Edwin! Wie hatte er sich noch genannt? Ach ja, einen »fahrenden Musikanten«. Sie hatte das immer als einen Witz angesehen. Ob er es auch als Witz gemeint hatte? Da war sie sich jetzt nicht mehr so sicher.
Sie versuchte sich an Verse aus dem alten Song von Gilbert und Sullivan zu erinnern, den er immer sang. Nur die erste Zeile und eine weitere fielen ihr wieder ein. Der Anfang hieß: »Ein fahrender Musikant bin ich, ein Ding aus lauter Lumpen.« Und die andere Zeile: »Und im Wechsel deiner Launen stimme ich fein mein Lied.«
Wehmütige Worte, wenn man sie genauer betrachtete.
Weshalb hatte Edwin gemeint, daß sie auf ihn zutrafen?
Energisch wandte sich Catherine wieder dem Studium der Bilanzen zu. Das Telefon klingelte, als sie das letzte Buch schloß. Bob Marron war am Apparat, einer der Ermittlungsbeamten, die sie im Krankenhaus aufgesucht hatten.
»Mrs. Collins, da Sie nicht zu Hause waren, dachte ich, ich versuch’s mal im Gasthof. Es hat sich etwas ergeben.
Wir fanden, wir sollten Ihnen die Information weitergeben, obwohl wir Ihnen natürlich nicht unbedingt empfehlen, daß Sie darauf eingehen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Catherine ohne Umschweife.
Sie hörte zu, wie Marron ihr berichtete, Fiona Black habe angerufen, eine Hellseherin, die schon des öfteren mit ihnen an Fällen vermißter Personen zusammengearbeitet habe. »Sie sagt, daß
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