Das fremde Gesicht
sie starke Schwingungen über Ihren Mann empfängt und gerne etwas von ihm hätte, das sie anfassen kann«, schloß Marron.
»Wollen Sie mir etwa irgendeine Quacksalberin schicken?«
»Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber können Sie sich noch an das Talmadge-Kind erinnern, das vor drei Jahren vermißt war?«
»Ja.«
»Mrs. Black war es, die uns gesagt hat, wir sollten uns bei unserer Suche auf das Baugelände in der unmittelbaren Nähe des Rathauses konzentrieren. Sie hat dem Kind das Leben gerettet.«
»Ich verstehe.« Catherine befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Alles ist besser, als nicht Bescheid zu wissen, sagte sie sich. Sie umklammerte den Hörer fester. »Was möchte Mrs. Black denn von Edwins Sachen haben? Kleider?
Einen Ring?«
»Sie ist gerade hier. Sie würde gerne zu Ihnen hinüberkommen und etwas aussuchen, falls das möglich ist. Ich könnte in einer halben Stunde mit ihr bei Ihnen sein.«
Catherine überlegte, ob sie lieber auf Meg warten sollte, bevor sie sich mit dieser Frau traf. Dann hörte sie sich sagen: »Halbe Stunde ist mir recht. Ich mache mich jetzt auf den Heimweg.«
Meghan hatte das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben, als sie sich in der Eingangshalle dem gepflegten Mann gegenübersah, der offenbar glaubte, sie seien sich schon einmal begegnet. Mit Lippen, die wie betäubt waren, formte sie mühsam die Worte: »Ich heiße nicht Annie. Ich heiße Meghan. Meghan Collins.«
Graham betrachtete sie aus der Nähe. »Sie sind doch Edwins Tochter, oder?«
»Ja, das stimmt.«
»Bitte, kommen Sie mit.« Er nahm sie am Arm und führte sie durch die Tür zum Arbeitsraum, der rechts vom Foyer lag. »Hier verbringe ich die meiste Zeit«, sagte er, während er sie zum Sofa geleitete und sich selbst in einem hohen Ohrensessel niederließ. »Seit meine Frau tot ist, kommt mir das Haus hier schrecklich groß vor.«
Meghan merkte, daß Graham sah, in welchem Zustand sie sich befand, und versuchte, die Situation zu entschärfen. Sie sah sich jedoch außerstande, ihre Fragen diplomatisch zu formulieren. Sie öffnete ihre Brieftasche und holte den Umschlag mit der Todesnachricht heraus.
»Haben Sie das meinem Vater geschickt?« fragte sie.
»Ja, das stammt von mir. Er hat es nicht bestätigt, aber das hatte ich auch gar nicht erwartet. Es tat mir so leid, als ich im Januar das von dem Unfall gelesen habe.«
»Woher kennen Sie meinen Vater?« fragte Meghan.
»Verzeihung«, entschuldigte er sich. »Ich glaube, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Cyrus Graham.
Der Stiefbruder Ihres Vaters.«
Sein Stiefbruder! Ich hatte nie eine Ahnung, daß es diesen Mann gibt, dachte Meghan.
»Sie haben mich vorhin ›Annie‹ genannt«, sagte sie.
»Wieso?«
Er antwortete ihr mit einer Frage. »Haben Sie eine Schwester, Meghan?«
»Nein.«
»Und Sie können sich nicht daran erinnern, daß Sie mich mit Ihrem Vater und Ihrer Mutter vor etwa zehn Jahren in Arizona getroffen haben?«
»Ich war nie dort.«
»Dann bin ich völlig durcheinander«, entgegnete Graham ihr.
»Wann und wo genau in Arizona sollen wir uns denn getroffen haben?« fragte Meghan mit Nachdruck.
»Lassen Sie mich mal nachdenken. Es war im April, vor ungefähr elf Jahren. Ich war in Scottsdale. Meine Frau hatte eine Woche bei der Elizabeth-Arden-Kur verbracht, und ich wollte sie am nächsten Morgen abholen. Am Abend zuvor habe ich mich im Hotel Safari in Scottsdale einquartiert. Ich kam gerade aus dem Speisesaal, als ich Edwin entdeckte. Er saß mit einer Frau zusammen, die wohl Anfang Vierzig war, und mit einem Mädchen, das genauso aussah wie Sie.«
Graham musterte Meghan. »Wenn ich’s mir überlege –
ihr seht beide Edwins Mutter ähnlich.«
»Meiner Großmutter.«
»Ja.« Jetzt sah er besorgt aus. »Meghan, ich fürchte, das setzt Ihnen zu.«
»Es ist äußerst wichtig, daß ich so viel wie möglich über die Leute erfahre, die damals am Abend mit meinem Vater zusammen waren.«
»Nun gut. Es war nur eine kurze Begegnung, aber da es nach Jahren das erste Wiedersehen überhaupt mit Edwin war, hat es sich mir eingeprägt.«
»Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal davor gesehen?«
»Nicht mehr, seitdem er aufs College ging. Aber obwohl dreißig Jahre vergangen waren, habe ich ihn auf der Stelle erkannt. Ich ging zu dem Tisch hinüber und wurde sehr frostig empfangen. Er stellte mich seiner Frau und Tochter als jemanden vor, den er aus seiner Jugend in Philadelphia kannte. Ich habe den Wink verstanden und
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