Das fremde Haus
gesagt, was sie wissen muss. Um nicht den Eindruck zu machen, dass ich darauf warte, Fragen gestellt zu bekommen, schaue ich aus dem Fenster auf die Schaukel, die Rutsche, das Klettergerüst, das Baumhaus, die Sandkiste und die beiden Trampoline im Garten meiner Eltern: Benjis privater Spielplatz. Kit nennt ihn »Neverland«.
»Au«, wiederholt meine Mutter und inspiziert demonstrativ die roten Flecken auf ihrer Hand. Was Fran und Anton angeht, verschwendet sie damit nur ihre Zeit. Sie sollte wissen, dass die Tortur, Benji zum Essen zu bewegen, alle anderen Gedanken sowie die Fähigkeit zur normalen Beobachtungsgabe aus ihren Hirnen verbannt hat.
»Also schön, zwei Schokoladenkekse«, seufzt Fran müde. »Tut mir leid deswegen, Leute. Komm schon, Benji – zuerst musst du das hier essen.« Sie nimmt ihm die Gabel aus der Hand, spießt ein Stück Brokkoli auf und hält es ihm vor den Mund, so dicht, dass es seine Lippen berührt.
Er reißt den Kopf zurück, spuckt aus und fällt fast vom Stuhl. Unisono, wie ängstlich besorgte Cheerleader, rufen Fran und Anton: »Fall nicht vom Stuhl!«
»Ich hasse Brokkoli! Es sieht aus wie ein ekliger Rotzklumpen!«
Wenn wir unter uns sind, nennen Kit und ich ihn Benjamin Rigby. Kit hat damit angefangen, und nach ein paar flüchtigen Protesten machte ich mit. Sein voller Name lautet Benji Duncan Geoffrey Rigby-Monk. »Du machst Witze«, sagte Kit, als ich ihm erzählte, wie mein Neffe heißen sollte. »Benji! Nicht einmal Benjamin?« Duncan und Geoffrey sind die Namen seiner beiden Großväter – wenig schick und ziemlich altbacken und, Kits Ansicht nach, nicht wert, einer neuen Generation aufgebürdet zu werden –, während Rigby-Monk eine Verbindung von Frans und Antons Nachnamen ist. »Für mich heißt er Benjamin Rigby«, erklärte Kit, nachdem wir ihn zum ersten Mal gesehen hatten. »Er scheint doch ein ganz anständiges Baby zu sein und hat einen anständigen Namen verdient. Nicht, dass sein Vater einen hätte, vielleicht sollte ich also nicht so überrascht sein.« Kit findet es nur hinnehmbar, »rumzulaufen und sich Anton zu nennen«, wie er sich ausdrückt, wenn man Spanier, Mexikaner oder Kolumbianer ist oder aber Friseur oder Profi-Eiskunstläufer.
Er sagt immer, dass ich dankbar für meine Familie sein sollte und froh darüber, sie in meiner Nähe zu haben, aber dann mokiert er sich gnadenlos über sie und meidet jeden Kontakt mit ihnen. Wenn es irgendwie geht, lässt er mich allein rübergehen. Ich beklage mich nie deswegen, dafür fühle ich mich zu schuldig, dass ich ihn da reingezogen habe. Ich würde es jedenfalls furchtbar finden, mit jemandem verheiratet zu sein, dessen Familie so erdrückend und allgegenwärtig ist wie meine.
»Lass doch das arme Kind in Ruhe, Fran«, sagt meine Mutter. »Das ist es doch nicht wert, nur wegen eines mickrigen Brokkoli-Röschens. Ich mache ihm schnell Hä–«
»Nicht!«, schneidet Fran ihr mit einer hektischen Armbewegung das Wort ab, bevor die fatalen Worte »Hähnchen-Nuggets mit Pommes« laut ausgesprochen werden können. »Wir haben alles, was wir brauchen, oder, Benji? Du wirst dein schönes leckeres gesundes Gemüse essen, oder, Schatz? Du willst doch groß und stark werden, nicht?«
»Wie Papa«, fügt Anton hinzu und lässt die Muskeln spielen. Früher war Anton Trainer bei Waterfront, aber nach Benjis Geburt hat er seinen Job aufgegeben. Jetzt stemmt er in seiner und Frans Garage, die er in ein Heim-Fitness-Studio verwandelt hat, Gewichte und baut seinen Bizeps oder seine Sehnen auf oder wie immer fitte Leute die Teile ihres Körpers nennen, die aufgebaut werden müssen. »Papa hat immer sein Gemüse aufgegessen, als er klein war, und schau dir an, wie er jetzt aussieht!«
An diesem Punkt hätte mein Vater normalerweise eingeworfen: »Die einzige Art, Kinder zu guten Essern zu machen, besteht darin, sie vor eine einfache Wahl zu stellen: Entweder sie essen das, was alle anderen auch essen, oder sie kriegen gar nichts. Dann lernen sie es ganz schnell. Bei euch beiden hat es auch funktioniert: Ihr esst alles, alle beide. Ihr würdet sogar eure Mutter essen, wenn sie auf dem Teller läge!«
Er hat das, oder eine Version davon, schon mindestens fünfzig Mal gesagt. Selbst wenn Fran nicht dabei ist, sagt er »alle beide« anstatt »du und Fran«, weil er daran gewöhnt ist, dass wir alle in diesem Raum versammelt sind, so wie in diesem Moment: Er sitzt mit seiner Times an dem wackeligen Kiefernholztisch, der
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