Das fremde Jahr (German Edition)
einläuten wird, und damit wird dieser Tag an Konturen gewinnen, wie ich hoffe, während Herr Bergen mir beinahe den Rücken zudreht, als er sich in einen Sessel setzt und eine dichte Rauchwolke seine schwere Silhouette einhüllt. Ich ertrage die Stille nicht mehr, die herrscht, obwohl im Hintergrund der Fernseher läuft, und sage zum zweiten Mal an diesem Morgen, dass es draußen kalt ist. Und windig – eine kleine sprachliche Meisterleistung. Aber ich will ihm nicht lästig werden und ich will auch nicht, dass er mich für überkritisch hält und deshalb füge ich rasch hinzu, dass ich die Kälte mag, was absolut falsch und lächerlich ist. Er erklärt mir, dass er den Winter hasst: verdammt, ich hätte den Mund halten sollen. Deshalb frage ich ihn, wie der Hund heißt. Ein einfacher Satz ohne großes Risiko, denn Sätze wie diesen lernt man in der Schule in der ersten Deutschstunde. »Wie heißt der Hund?« Der Hund heißt Naphta.
Ich gehe in mein Zimmer im Untergeschoss zurück, öffne das Klappfenster, und es wird sofort um etliche Grad kälter. Ich schüttle auf meinen acht Quadratmetern die Bettdecke aus und lege sie anschließend perfekt zusammen, wie eine Art Nest. Ich trage dieselbe Jeans und denselben Pullover wie am Vortag, lege mich aufs Bett, höre eine Kassette von
The Clash
und fange an, einen Brief an meinen Bruder zu schreiben. Gestern Abend am Telefon hat meine Mutter nichts gesagt, ich wollte ihr keine Fragen stellen und auch nicht lange die Leitung blockieren. Ich habe gehört, dass die Bergens sogar das Kauen eingestellt haben, um mich Französisch reden zu hören. Das war noch bevor ich meine Leber aufgegessen hatte. Ich habe mich um einen fröhlichen Tonfall bemüht, damit alle beruhigt waren. Ich weiß, dass der Brief an Simon lang werden wird, ich werde ihm kein Detail vorenthalten. Ich verspüre das Bedürfnis, in einer Sprache zu denken, die meine ist, jedes meiner Worte mit Sorgfalt auszuwählen, um ganz präzise auszudrücken, was ich empfinde. Denn auf Deutsch habe ich den Eindruck, dass sich mein Denken verengt, ich meine Klarheit verliere und mich zu einer Vereinfachung der Welt verleiten lasse, die mich erschreckt. Ich habe Angst, mich zu verlieren, die Bedeutung der Worte zu verlieren, ich habe Angst zu verschwinden.
Als Frau Bergen endlich herunterkommt, fängt Naphta an zu bellen. Ich warte einige Minuten, bevor ich laut die Stufen ins Erdgeschoss hinaufgehe, um sie nicht zu erschrecken. Ihr hübsches Gesicht sieht etwas abgespannt aus, lächelt mich aber an. Es ist kurz vor elf, und ich glaube nicht, dass Herr Bergen schon weg ist. Ich habe seinen Wagen nicht wegfahren hören. Frau Bergen ist recht leicht gekleidet für diese Jahreszeit, wie mir scheint. Als sie ihren Kaffee trinkt, schluckt sie ein paar Medikamente, dann fängt der Kreislauf mit den Zigaretten an, und sie zündet eine nach der nächsten an, bis das Haus nur noch eine einzige Rauchwolke ist. Sie fragt mich, ob es mich stört, was ich natürlich verneine, nein, gar nicht, und ich erfahre plötzlich aus meinem eigenen Mund, dass ich den Geruch von Zigaretten liebe, genau wie den Winter oder gebratene Leber. Erstaunlich, was man nicht alles erfindet, wenn man allein ist und sich abhängig fühlt. Frau Bergen geht mit mir nach unten in den Waschkeller, sagt, ich solle die Wäsche abhängen und zeigt auf einen Korb. Bis jetzt kenne ich mich aus, fühle mich auf vertrautem Terrain. Die Socken zusammenlegen, die Unterhosen falten, die T-Shirts und Hemden zum Bügeln beiseitelegen und für jedes Familienmitglied einen eigenen Stapel machen. Die universelle Sprache des Waschraums spreche ich perfekt, und meine Bewegungen sind absolut fließend und effizient. Ich bemühe mich um Distanz, um mich nicht durch die Berührung der Wäsche durcheinanderbringen zu lassen, intime Spuren der Existenz von Menschen, die ich noch nicht kenne. Ninas Strümpfe irritieren mich weniger als die Büstenhalter von Frau Bergen oder die Slips ihres Mannes. Doch ich überwinde meine Skrupel und höre nicht auf meine innere Stimme, die mir sagt, dass es doch nicht ganz normal sein kann, eine fremde Person seine Unterwäsche sehen zu lassen. Ich ärgere mich über meine kleinbürgerlichen französischen Vorurteile, schiebe meine Verlegenheit auf die unterschiedliche Kultur und zwinge mich, an etwas anderes zu denken. Danach weiß ich nicht, ob ich den Korb nach oben bringen soll oder ob im Keller gebügelt wird. Schließlich findet
Weitere Kostenlose Bücher