Das fremde Jahr (German Edition)
diese Zeremonie dann aber im Wohnzimmer statt, auf einem Bügelbrett mit allen Schikanen, vor dem großen Fenster, hinter dem sich nichts rührt. Das Bügeln macht mir nichts aus, auch nicht der unangenehmsten Kleidungsstücke, aber es wäre mir nur lieber, wenn Frau Bergen nicht Zeugin meiner Lehrzeit wäre; ich wünschte, sie würde den Raum verlassen, damit sie nicht merkt, dass ich in meinem ganzen Leben noch kein Hemd gebügelt habe.
An der Haltestelle des Schulbusses warte ich auf Nina und habe seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen. Es ist noch immer sehr windig, aber wenigstens ist es hell geworden. Es wäre unfair, wenn ich nicht zugeben würde, dass die Landschaft, die mich umgibt, sehr schön ist. Der Himmel ist von einem unverhofften Blau, darunter ein Weiß, das einen blendet. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich dieses Gefühl gern mit jemandem teilen würde, den ich mag, meinem großen Bruder zum Beispiel, wem sonst? Es wäre schön, Simon an meiner Seite zu haben, um dieses Wintermärchen mit ihm zusammen zu betrachten. Wir könnten einfach nur ein Zeichen austauschen, uns anschauen, mit geblendeten Augen, und einen Satzanfang sagen, einige Silben, die beweisen würden, dass wir gemeinsam etwas Außergewöhnliches erleben. Und die Gegenwart des anderen würde Worte überflüssig machen, seine Wärme würde ausreichen, um diesen Moment jenseits aller Zeit einmalig und außergewöhnlich zu machen, ihm eine ganz besondere Intensität verleihen. Nina lächelt zuerst, ehe sie gleichgültig tut, und scheint nicht überrascht, mich dastehen zu sehen. Sie will nicht, dass ich ihre Schultasche trage, und wir gehen schweigend miteinander nach Hause; sie geht vor mir her, ich gehe in ihren Fußspuren, und wir nehmen die Abkürzung, die an den Schienen entlangführt. Ich habe den Verdacht, dass sie besonders schnell geht, damit ich Mühe habe, ihr zu folgen. Aber ich verliere sie nicht aus den Augen und rutsche manchmal auf dem Schnee aus, den der Wind über den Weg geweht hat. Als wir ankommen, steht Herrn Bergens Wagen nicht mehr da. Auf dem Küchentisch liegen einige Scheiben Brot und Wurst. Naphta liegt vor dem Fernseher und kläfft. Frau Bergen ist vermutlich im oberen Stockwerk, im Badezimmer, wie ich annehme. Doch dann kommt sie vom Keller herauf, und ich frage mich, ob ich nicht gerade gehört habe, dass die Tür meines Zimmers geschlossen wurde. Ich kann die unterschiedlichen Geräusche dieses Hauses noch nicht zuordnen. Ich muss erst noch lernen, die einzelnen Geräusche zu deuten, ich muss mich mit dem Knarren der Treppenstufen vertraut machen, dem leichten Zuschlagen der Türen, und ich muss darauf achten, ob die Autos vor der Zufahrt zur Garage stehen und ob Thomas’ Mofa da ist. Ich habe Hunger und mache es wie Nina, die zwischen dem Tisch und dem Kühlschrank steht und isst. Auch Frau Bergen knabbert ein paar Käsescheiben, zwischen Küche und Wohnzimmer, und raucht nebenher. Ich denke an die Wäsche, die noch gebügelt werden muss und die sicher schon nach Rauch stinkt, ich würde gern fertig bügeln, um dann die nächste Aufgabe in Angriff zu nehmen, doch dazu lässt man mir nicht die Zeit.
Wir fahren ins Büro von Herrn Bergen, im Stadtzentrum, und ich komme zu dem Schluss, dass das Ehepaar Bergen zusammenarbeitet. Es sind noch andere Leute da, über ihre Arbeitstische gebeugt. Ein Büro für Stadtplanung, ein Architektur- oder Konstruktionsbüro? Das werde ich nie erfahren. Frau Bergen zeigt auf einen Stuhl, auf dem ich warten soll, während sie etwas erledigt. Ich schaue aus dem großen Fenster auf die Stadtbewohner, die über die Bürgersteige gehen, in Winterstiefeln und dicken Mänteln, und merke, dass es bald wieder dunkel sein wird. Seit meiner Ankunft tue ich nichts anderes als warten, ich habe noch keine Ahnung, wie mein Leben hier verlaufen wird, im Moment jedenfalls besteht es nur aus kleinen Scheibchen, kümmerlichen Zeitfetzen, die meine innere Unruhe nur verstärken. Ich trete von einem Bein auf das andere, komme nicht voran, tue nichts, bin ohne eigentliches Ziel, lasse mich treiben, herumschubsen, bin nur ein kleines Paket, ein Gegenstand ohne klare Konturen. Allein, aber stets in Begleitung. Ich bin anderen ausgeliefert, sie verfügen über mich, und ich mag dieses Gefühl der Leere nicht, das immer mehr von mir Besitz ergreift, diesen Eindruck, zu schwimmen, mich im Leben anderer aufzulösen in der seltsamen Realität ihrer Existenz. Ich setze mich auf
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