Das Fremde Mädchen
letzte junge Mann, der diesem Irrtum zum Opfer fiel, und sie nicht das erste und auch nicht das letzte arme Mädchen, das darunter leidet. Wenigstens hat sie ihren guten Namen behalten. Es ist zu verstehen, daß er selbst unter dem Siegel der Beichte fürchtete, sich zu offenbaren. Aber das alles ist lange her, achtzehn Jahre sind es jetzt. Wir wollen ihm ein friedliches Ende ermöglichen.«
Allgemein war man der Ansicht, daß ein friedliches Ende alles war, was man noch für Bruder Haluin erhoffen konnte. In den Gebeten war nicht von einer Genesung die Rede, zumal er nach der kurzen wachen Spanne in tiefe Bewußtlosigkeit gefallen war. In den folgenden sieben Tagen, als das Weihnachtsfest kam und ging, lag er reglos und bemerkte nicht, was seine Brüder an seinem Bett taten. Er aß nicht und gab keinen Laut von sich außer dem kaum hörbar flatternden Atem.
Und doch, dieser Atem, so schwach er auch war, kam gleichmäßig und ruhig, und wann immer man Tropfen mit gesüßtem Wein auf seine Lippen gab, wurden sie angenommen, und die Stränge in seinem Hals schienen sich wie von selbst zu bewegen, wenn er gehorsam schluckte. Nur die breite, kalte Stirn und die geschlossenen Augen ließen nicht durch irgendwelche Regungen erkennen, daß ihm bewußt war, was mit seinem Körper geschah.
»Als wäre nur sein Körper hier«, sagte Bruder Edmund, »während sein Geist an einem anderen Ort wartet, bis das Haus wieder hergestellt und gesäubert ist, damit er darin leben kann.«
Ein passender Vergleich aus der Bibel, dachte Cadfael, denn Haluin hatte selbst die Teufel ausgetrieben, die ihn heimgesucht hatten. Das Heim, das sie bewohnt hatten, konnte nun durchaus eine Zeitlang verwaist sein. Niemand war da, der achtgeben und die Heilung fördern konnte. Aber so sehr dieser ausgedehnte Rückzug auch dem Tod ähnelte, Bruder Haluin würde nicht sterben. Und deshalb, dachte Cadfael, müssen wir genau aufpassen, damit die Parabel auch ihr rechtes Ende findet. Wir müssen dafür sorgen, daß es den sieben Teufeln, die schlimmer sind als die ersten, nicht gelingt, einen Fuß in die Tür zu bekommen, während er abwesend ist. So beteten sie das ganze Weihnachtsfest über bis zur feierlichen Begrüßung des neuen Jahres inbrünstig für Haluin.
Inzwischen begann zögernd das Tauwetter. Jeden Tag wurde ein wenig mehr von den gewaltigen Schneemassen abgetragen, die niedergefallen waren. Die Arbeit am Dach wurde ohne weitere Zwischenfälle beendet, das Gerüst wurde abgebaut. Das Gästehaus war nun wieder wasserdicht. Alles, was von der großen Aufregung geblieben war, war jener stille, stumme Mann in seinem abgetrennten Krankenzimmer in der Krankenstation, der unschlüssig zwischen Leben und Tod schwankte.
In der Nacht auf Epiphanias schlug Bruder Haluin dann die Augen auf und holte tief und langsam Luft wie ein Mann, der ohne Furcht erwacht. Er ließ die Blicke verwundert durch die kleine Kammer wandern, bis er Bruder Cadfael sah, der stumm und aufmerksam neben ihm auf dem Stuhl saß.
»Ich habe Durst«, sagte Haluin vertrauensvoll wie ein Kind und lehnte sich weich an Cadfaels Arm, um zu trinken.
Sie hatten schon erwartet, daß er wieder das Bewußtsein verlieren würde, doch er blieb den ganzen Tag wach und klar, und in der folgenden Nacht schlief er einen natürlichen Schlaf, flach aber ruhig. Danach kehrte das Leben in sein Gesicht zurück und verließ es nicht mehr. Da er aber die Schwelle zum Tod verlassen hatte, kehrte er nun in das Reich des Schmerzes zurück. Auf gerunzelter Stirn und zusammengepreßten Lippen hinterließ der Schmerz seine Spuren, doch Haluin trug ihn ohne zu klagen. Der gebrochene Arm war verheilt, während er bewußtlos gelegen hatte. Nur noch die juckenden Schmerzen heilender Wunden waren dort zu spüren. Nachdem Cadfael und Edmund sich zwei Tage mit der Krankenwache abgewechselt hatten, schien es ihnen, als sei die Verletzung im Innern des Kopfes ebenso verheilt wie die äußere Wunde, geheilt durch Stille und Ruhe. Denn sein Bewußtsein war klar. Er erinnerte sich an das vereiste Dach, er erinnerte sich an den Sturz, und einmal, als er mit Cadfael allein war, gab er zu erkennen, daß er sich ebenso deutlich an seine Beichte erinnerte, denn nach langem Schweigen sagte er:
»Ich habe Euch einst, vor langer Zeit, hintergangen, und jetzt pflegt und versorgt Ihr mich, und ich kann es Euch nicht vergelten.«
»Ich habe auch keine Gegenleistung erwartet«, gab Cadfael gelassen zurück und begann geduldig
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