Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Krankenschwester wäre. Eine Ärztin würde ich nicht sein wollen, es ginge mir auch nicht darum, im Inneren bewusstloser Menschen herumzufuhrwerken. Überhaupt hätte ich gerne möglichst wenig mit Blut und Knochen zu tun. Ich wäre eine weichgezeichnete Krankenschwester. Und in meinem Krankenhaus gäbe es auch keine Spritzen oder Katheter und sicher keine Einläufe. Es gäbe nur sanfte, traurig schöne Patienten, die in ihren Betten lägen und darauf warteten, dass ich ihnen vorlese, dass ich ihnen das Haar aus dem Gesicht streiche und ihre Hand halte.
Aber ich muss nur an meine Flucht aus dem Krakenhaus denken, um zu erkennen, dass ich wohl niemals eine Krankenschwester sein werde.
*
In der Bibliothek sitzend bin ich sicher, dass der Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht und ich eines Tages meinen Laptop zuklappen und nie wieder öffnen werde, ich werde schlafen, in der Bibliothek und zu Hause, an den Morgen, den Mittagen, den Abenden und durch die Wochenenden hindurch.
Doch statt des großen Zusammenbruchs kommst du.
*
Ich lausche auf Schritte, draußen hinter der Tür, warte darauf, dass jemand die Klinke herunterdrückt, den Raum betritt, jemand zu uns kommt, mit uns spricht. Aber es kommt selten jemand. Darum habe ich gestern ein Radio mitgebracht. Wenn ich einnicke, das kommt hin und wieder vor, dann tragen mich die Stimmen davon; während gesungen und berichtet, gewitzelt und informiert wird, treibe ich in meinem Kopf immer weiter fort, fernen Orten entgegen. Irgendwo dort, daran glaube ich, werden wir einander finden. Bis dahin aber ist die Stille so dicht, dass ich meine, sie auf meinem Gesicht zu spüren, auf den Wangen, den geschlossenen Lidern. Manchmal sage ich ein Wort oder einen ganzen Satz, damit irgendwer irgendetwas sagt. Lange Zeit habe ich nicht gewusst, was ich erzählen soll, denn ich muss sparsam mit unseren Geschichten sein: Ihre Zahl ist endlich. Die Geschichte Pauls, die Geschichte der Spinnen, die Geschichte des Fahrrads lassen sich alle bloß ein Mal erzählen , und wir werden einige tausend Meilen reisen müssen, bis zum Rand der Welt und wieder zurück, bevor es mir möglich sein wird, auch die letzte Geschichte zu erzählen.
Nun endlich weiß ich, wo und wie ich die Reise beginnen kann. Ich schlage das erste Heft auf. Bist du bereit?
Dann lass uns anfangen. Du hörst jetzt die erste Geschichte. Du musst die Augen nicht öffnen, musst dich nicht bewegen, musst nicht mit dem Kopf nicken und ihn auch nicht schütteln. Heute Nacht nehme ich dich mit auf eine Reise, auf hundert Reisen nehme ich dich mit, und vielleicht sind wir dorthin unterwegs, wo du noch nie hinwolltest, wo keiner zu Hause sein möchte. Und vielleicht wirst du hin und wieder allein sein, einsam sein, wirst denken, dass ich dich nicht finden werde, nicht weiß, wo du bist, keiner weiß, wo du bist, und du warten musst, wie Rapunzel in ihrem Turm, wie Schneewittchen im Sarg aus Glas, wie Dornröschen hinter der Hecke. Mach dir keine Sorgen, halte still, halte dich gerade, halte Ausschau, warte, bis sich eine Tür öffnet, jemand den Raum betritt, jemand deinen Namen sagt, jemand durch die Fluten, durch den Wald, durch die Straßen, durch die Nacht zu dir kommt und dich findet in der Stadt, die nie dieselbe bleibt, in dem Wald, in dem es immer schneit, in den Kellern der Kliniken und Fabriken, hoch über den Wolken und an der tiefsten Stelle des Meeres.
Die erste Geschichte:
Die letzten Tage in der Wechselstadt
»Aber die existierenden wissenschaftlichen Begriffe passen jeweils nur zu einem sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit, und der andere Teil, der noch nicht verstanden ist, bleibt unendlich.«
Werner Heisenberg, »Physik und Philosophie«, 1958
Es ist einer der letzten Morgen, an einem der letzten Tage in der Wechselstadt.
Im äußersten westlichen Bezirk sitzt Moira auf ihrem Fahrrad und wippt vor und zurück. Das Vorderlicht ist kaputt, die Bremse auch, der Rücktritt immerhin funktioniert noch. Hätte sie die Wahl, würde sie ein Motorrad vorziehen, aber in der Wechselstadt ist es schwer, nahezu unmöglich, an Benzin zu kommen. Hier fahren keine Autos mehr, keine Busse, und selbst Fahrräder gibt es nur noch wenige.
Moira trägt einen schwarzen, eng anliegenden Anzug, der nur die Hände, den Hals und den Kopf frei lässt. Schnitt und Material entsprechen den besonderen Lebensbedingungen der Wechselstadt; der schützende, luftundurchlässige Stoff erinnert an Neopren. Wo Moiras Haut frei liegt, ist
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