Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Wiederauftauchen eines Hauses keinesfalls mit dem Wiederauftauchen seines Inventars gleichzusetzen. Nicht nur die Häuser, auch alles, was sich in ihnen befand, war dem prekären Zauber der Bewegung erlegen. Immer öfter entdeckten die Wechselstädter ihnen fremde Gegenstände in den eigenen vier Wänden – den Kochtopf einer Nachbarin, den Haartrockner aus dem Friseursalon um die Ecke, eine ganze Einbauküche mitsamt gut gefülltem Kühlschrank.
Nach einigen Wochen zeichnete sich eine noch beunruhigendere Entwicklung ab. Nicht alles, was verschwand, tauchte auch wieder auf. Grundvoraussetzung für die Bewegung war, dass sich alle Partikel des zu bewegenden Objektes voneinander lösten, um sich nach der Teleportation an anderer Stelle wieder zusammenzusetzen. Dass diese Zusammensetzung nicht immer und notwendigerweise erfolgte, hatte der ein oder andere IZBF-Mitarbeiter bereits zögernd angemerkt. Es sei vollkommen unklar, welche Auswirkungen und Langzeitfolgen der Eingriff in die tiefsten Tiefenstrukturen der Objekte haben könne. Des Weiteren schien niemand zu wissen, was mit den Männern und Frauen geschah, die sich in den Häusern aufhielten, als diese verschwanden. Gerüchte verbreiteten sich über Köpfe, die in Kellern, über Hände, die in Badewannen gefunden wurden.
»Die Körper reisen mit den Häusern«, hatte Moiras Freund Pip einmal zu ihr gesagt. »Aber nicht am Stück.«
Ein Trupp grau gekleideter Männer und Frauen marschiert durch die belebteren Straßen der Nordvorstadt. Man könnte sie für Polizisten halten, aber spätestens seitdem die Polizeiwache vor einigen Monaten verschwand, hat sich diese Einrichtung vollständig aufgelöst. Es handelt sich um die Vertreter der Hauswacht, der wichtigsten verbliebenen Organisation in der Wechselstadt. Die Hauswacht reguliert das Wenige, was noch zu regulieren ist. Sie achtet darauf, dass die Anzahl der Menschen ohne Wohnsitz (kurz: OWos) so niedrig wie möglich bleibt. Der Sammelbegriff OWo umfasst all jene, welche die Suche nach ihren Wohnungen oder Häusern aufgegeben haben und die Wechselstadt nach Objekten absuchen, um diese auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Durch die Verkäufe versuchen sie, genug zu verdienen, um die Wechselstadt verlassen zu können. Denn wer hier ausreisen möchte, muss eine Gebühr entrichten, die so hoch ist, dass sie kaum jemand aufbringen kann.
Auch Moira hat keinen festen Wohnsitz. So lange schon, dass sie sich nicht mehr an das Gefühl erinnern kann, einen Hausschlüssel in ein Schloss zu stecken, oder daran, wann sie das letzte Mal den Anrufbeantworter abgehört oder in einen Briefkasten geschaut hat. Moira aber träumt nicht von einem Zuhause, sondern bloß davon, die Wechselstadt eines Tages verlassen zu können.
An diesem Nachmittag wartet sie auf Pip, um sich mit ihm zu beratschlagen. Seit Tagen schon haben sie nichts mehr gefunden: kein Telefon, keinen Fernseher, keinen Schmuck und keine CDs. Nur ein geringer Prozentsatz der verschwundenen Objekte taucht wieder auf. Vor einigen Monaten bereits begann sich abzuzeichnen, dass es immer schwieriger werden würde, Objekte aufzutreiben. Waren Moira und Pip im Sommer noch jeden Tag fündig geworden, hatten unter den Objekten die besonders wertvollen auswählen können, schien der Herbstwind eine beträchtliche Anzahl von ihnen davongetragen zu haben. Die Tage, an denen Moira und Pip kein einziges Objekt, nicht einmal einen Topf oder ein Bügeleisen, entdeckten, mehrten sich. Eine Zeitlang konnten sie sich noch auf bestimmte Orte verlassen – wie die ehemalige Lagerhalle oder den Schrottplatz –, inzwischen aber kehren sie auch von dort immer öfter mit leeren Händen zurück.
Moira ist unruhig. In den Westbezirken der Stadt wird noch regelmäßig patrouilliert, und Moira macht sich durch ihr bloßes Erscheinen strafbar. Sie hat weder die Genehmigung, ein Fahrrad zu besitzen, noch die, sich in diesem Teil der Stadt aufzuhalten.
Während sie wartet und nach Vertretern der Hauswacht Ausschau hält, denkt sie über den Engel der Bewegung nach. Sie glaubt nicht an ein zufälliges Verschwinden, sondern daran, dass die Hauswacht die goldene Statue, wie andere Wertgegenstände zuvor, in Verwahrung genommen hat.
Plötzlich fährt sie zusammen, lauscht auf das Geräusch von Reifen auf dem Pflaster, von Speichen, die sich drehen. Noch bevor sie Pip um die Ecke biegen sieht, erkennt sie ihn am leichten Scheppern und Schleifen seines Rades. Er lässt die Schultern hängen und den
Weitere Kostenlose Bücher