Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Objekten nachweisen, die kurz vor einem Wechsel standen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Objekte tatsächlich innerhalb der nächsten 48 Stunden verschwanden, lag bei 98 Prozent. Wir haben in der letzten Woche Messungen in Basenzia vorgenommen, die nahelegen, dass –«
An dieser Stelle wird die Verbindung unterbrochen.
Jonas lehnt sich zurück und schließt die Augen. Ich brauche Wasser, denkt er.
*
Bevor die Wechselstadt die Wechselstadt wurde, war sie die Nordstadt. Weiter gab es nichts über diese Stadt zu sagen, als dass sie im Norden des Landes lag. Bekannt war sie bloß für ihr schlechtes Klima, ihre hohe Kriminalitätsrate und ein schal schmeckendes, dafür aber sehr günstiges Bier (das Nordbier), welches heute nicht mehr gebraut wird. Weil es sich bei der Nordstadt um die Hauptstadt des Landes handelte, bildete sich dort die Speerspitze der internationalen Bewegungsforschung heraus und fand ihren Höhepunkt in der Gründung des IZBF 1 . Physiker des ganzen Landes arbeiteten Tag und Nacht, um die Kunst der Bewegung, welche sich auf neuste quantenphysische Erkenntnisse gründete, zu verfeinern. Vor einigen Jahren schließlich kam es zu revolutionären Durchbrüchen im Bereich der Quarks und Quanten. Hatte man Ende des letzten Jahrhunderts gerade einmal einen Quantenzustand innerhalb eines verschränkten Quantensystems übertragen können, gelang es nun, vollständige Quantenbilder zu teleportieren. In den Laboren des IZBF entwickelte man Techniken, dank welcher sich die Forschungsergebnisse von der Mikro- auf die Makrophysik übertragen ließen, sodass bald ganze Objekte von einer Position an eine andere versetzt werden konnten. Zunächst handelte es sich vor allem um kleinere Makro-Objekte, doch mit fortschreitendem Erfolg der Testserie wagte man sich an immer größere Gegenstände.
Moira kann sich noch daran erinnern, wie man während einer beliebten Abendsendung unter großem Applaus das erste Auto verschwinden ließ. Wie tausende andere Nordstädter saß auch Moira vor dem Fernseher und verfolgte, wie das Auto scheinbar von magischer Hand von einem Podest auf ein anderes transportiert wurde. Die Bewegung eroberte innerhalb kürzester Zeit das Unterhaltungsfernsehen und fand ihren Höhepunkt in der Gameshow »Now you see it – now you don’t« (NYSINYD), in welcher die Teilnehmer Gegenstände, die durch Quantenteleportation bewegt worden waren, hinter Vorhängen, in Boxen oder unter Hütchen aufspüren mussten. Wäre Moira je unter den Teilnehmern gewesen, hätte sie jedes Spiel gewonnen.
Der gemeine Nordstädter wusste so gut wie nichts über jene Vorgänge, die die Objekte zwar äußerlich unverändert ließen, auf molekularer Ebene jedoch massive Eingriffe vornahmen. Doch interessierten sich die Bewohner der ehemaligen Nordstadt auch nicht für molekulare Ebenen oder kleinste Partikel, sondern für den Unterhaltungswert der Bewegung. Noch bevor man die physikalischen Prinzipien, die ihr zugrunde lagen, genau verstanden hatte, beschloss man, die Theorie in die Praxis umzuwandeln: Von den Laboren über die Fernsehstudios gelangte die Bewegung schließlich in den Lebensalltag der Wechselstädter. Es könne kaum Schaden entstehen, argumentierte man, solange keine Menschen, sondern lediglich tote Materie bewegt werde.
Die Vorteile lagen auf der Hand; hatte man zuvor von einem Stadtrand zum anderen reisen müssen, um zu einem bestimmten Restaurant oder Geschäft zu gelangen, reichte es nun, den Hausplan zu kontrollieren, um herauszufinden, zu welcher Tageszeit das gewünschte Haus im eigenen Viertel auftauchen würde. Man legte »wandelnde« Häuser fest, eine beliebte Attraktion auch für Touristen. Diese Häuser, im Volksmund als »Mobilien« bekannt, wanderten, feststehenden Zeitplänen folgend, durch alle Viertel.
Doch wenige Monate, nachdem die Nord- zur Wechselstadt geworden war, ließ sich eine beunruhigende Verselbstständigung feststellen. Längst wandelten nicht mehr bloß Mobilien, sondern auch Häuser, die niemand für den Wechsel präpariert hatte.
Man verlor den Überblick.
Stadtpläne wurden hinfällig, da sich innerhalb weniger Wochen große Teile der Wechselstadt selbst neu organisierten. Wenn die Wechselstädter morgens Haus und Familie zurückließen, gab es keine Garantie, dass sie bei der abendlichen Rückkehr beides wieder vorfinden würden. Zwar kehrten die meisten Häuser früher oder später wieder an ihren ursprünglichen Standort zurück, doch war das
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