Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
verschränkt die Arme. »Ich gehe nicht in die Keller«, sagt er nach einem Moment.
»Du hast selbst gesagt, dass wir Geld brauchen.«
»Und wenn wir reinkämen, Moira, dann kämen wir nicht mehr raus. Wir kämen nie wieder dort raus.«
»Vielleicht nicht.«
»Sicher nicht.«
»Wenn wir es nicht ausprobieren.«
»Du hast bloß eine Ahnung, ein Gefühl.«
Moira steht auf. »Im Moment verlassen wir uns auch auf mein Gefühl.«
Pip setzt an, ihr etwas zu entgegnen, dann schüttelt er bloß den Kopf. »Ich bin müde, Moira. Morgen können wir auch noch darüber reden.«
Er geht zu seinem Schlafsack und ist wie immer schon nach wenigen Minuten eingeschlafen. Moira neidet ihm seinen Schlaf; sie selbst liegt meist lange wach und schreckt jede Nacht aus wirren Träumen auf. Sie träumt von einem Meer, und es ist kein ihr bekanntes, sie träumt von einem Wald und Schnee, von einem Zirkus, einem Schiff, einer Fabrik und endlosen Gängen. Sie träumt von Orten, an die sie sich erinnern kann, obwohl sie nie dort gewesen ist.
*
Noch immer befinden sich Moira und Jonas an entgegengesetzten Enden der Stadt. Während Moira sich aus ihrem Schlafsack schält, schlägt auch Jonas die Augen auf. Wieder einmal hat er es nicht bis in sein Bett geschafft und erwacht in den weichen Polstern des Sessels. Er versucht sich auszustrecken, seine Gelenke aber scheinen wie verhakt. Er lässt den kleinen Finger der rechten Hand zucken, dann den der linken, lockert einen Finger nach dem anderen. Bald, denkt er, werde ich mit dem Sessel verwachsen sein. Ich werde versuchen aufzustehen und mich nicht vom Polster lösen können. Irgendwann wird irgendwer den Sessel entdecken und sich über das ungewöhnliche Muster wundern, bis er erkennt: Das sind Ohren, sind Augen, ist ein Mund, ein ganzes Gesicht im Polster verborgen.
Moira ist gerade damit beschäftigt, ihren Schlafsack zusammenzurollen, als sie es hört. »Hast du was gesagt?«, fragt sie Pip.
Pip schüttelt den Kopf. Nein, hat er nicht.
Moira rollt den dünnen Stoff weiter, stoppt. Doch, dieses Mal ist sie sicher, ein Knirschen, ein Mahlen gehört zu haben.
Als er ihren Gesichtsausdruck sieht, steht Pip auf. »Was ist los?«, fragt er.
»Mach schneller«, sagt Moira und sieht sich um.
Die restlichen Sachen packen sie wortlos zusammen. Draußen ziehen sie die Fahrräder aus dem Versteck hinter dem Schuppen. Kaum dass sie sich vom Haus entfernen, fühlt Moira sich leichter, Pip aber bleibt schon nach wenigen Schritten stehen.
»Die Taschenlampe«, sagt er. Unentschieden schaut er zum Haus zurück und schlägt mit der flachen Hand gegen den Lenker. »Ich muss noch mal rein.«
Weil Moira in Gedanken bei dem Engel und den Kellern ist, achtet sie kaum auf Pip, der sich umdreht und zurückläuft. Mit den Füßen auf dem Boden stößt sie sich ab, lässt sich auf dem Rad vor- und zurückrollen. Dabei betrachtet sie den Himmel, die Wolken, die heute besonders tief und schwer hängen. Plötzlich bemerkt sie ein Flimmern. Sie dreht den Kopf. Aus den Fensterritzen des Hauses kriecht grüner Dunst, überzieht die Wände und das Dach. Die Umrisse flirren bereits, weiße Flocken lösen sich und steigen auf. Und dann packt der Wechsel die Welt und zieht das Haus wie einen Zahn, der nur locker im Stoff der Wirklichkeit gesessen hat. Pip!, will Moira rufen, als sie eine Druckwelle von hinten erfasst, die sie vom Rad und auf die Straße schleudert. Sie drückt sich gegen den asphaltierten Untergrund und lässt den Wechsel über sich hinwegrollen.
Als sie den Kopf hebt und die Augen öffnet, gibt es bereits nichts mehr zu sehen. Kein Haus und keinen Pip.
Moira bewegt sich nicht. Seit gut einer Stunde sitzt sie auf dem Bordstein vor dem verschwundenen Haus. Ihr Rad liegt neben ihr auf der Straße. Was gibt es jetzt noch zu tun? Gibt es noch etwas zu tun? Sie mustert eines der gegenüberliegenden Häuser, seine Tür steht weit offen, im Inneren glimmt es grün. Sie könnte hineingehen, über Scherben oder einen fleckigen Teppich zu einem nicht weniger fleckigen Sofa laufen und sich in die weichen Polster fallen lassen. Dort könnte sie auf den nächsten Wechsel warten.
Sie steht auf und macht einen Schritt auf das Haus zu, als sie an Köpfe in Kellern und Füße in Waschbecken denken muss. Schon bleibt sie wieder stehen, rührt sich nicht, während sich ihr Inneres neu justiert, neu ausrichtet, ein Ziel findet, eine zumindest vorübergehende Balance; wie schon endlose Male zuvor: als die Wohnung
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