Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Zukunft, die sich vor uns ausbreitet, und sie ist wie eine Brücke, von der wir nicht genau wissen, wohin sie führt, aber es ist auch nicht wichtig, die Aussicht gefällt, und der Boden unter unseren Füßen scheint fest und zuverlässig.
In unserer Wohnung gibt es eine Schlafcouch und sogar ein wenig genutztes Arbeitszimmer, das Effie für sich haben könnte. Trotzdem bin ich nicht überrascht, als du mir nach einem Telefonat berichtest, Effie werde lieber wieder in ihrem Hotel übernachten. Sie wolle uns nicht zur Last fallen, und ohnehin könne sie mit ihrem Rücken schlecht auf der Couch schlafen.
Mir ist es recht so, aber ich glaube ihr nicht. Ich bin sicher, dass sie lieber im Hotel übernachten will, weil es ihr unangenehm wäre, sich als mein Gast zu fühlen.
Schon als wir Effie am Bahnhof abholen, fällt mir auf, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie fühlt sich sichtlich unwohl, gleich, wohin wir gehen, wo wir uns aufhalten: Im Park fühlt sie sich unwohl, in unserer Wohnung, im Café und im Restaurant. Sie wirkt fahrig und angespannt und schaut sich oft um, als halte sie nach jemandem Ausschau. Erst am Abend erzählt sie uns, dass sie in den letzten Wochen »terrorisiert« worden sei. Ich denke sofort an anonyme, obszöne Anrufe, und einen kurzen Moment überkommt mich Schadenfreude, als ich mir vorstelle, wie Effie sorgenvoll dem schweren Atem ihres Gartenzwerge sammelnden Nachbarn lauscht.
Irgendwer, erzählt sie, werfe leere Umschläge in ihren Briefkasten. Ohne Briefmarke, deswegen wisse sie auch, dass die Briefe nicht geschickt, sondern direkt eingeworfen worden seien. Sie sähen nach Geschäftsbriefen aus, und bei dem ersten von ihnen habe sie gedacht, es müsse sich um eine Rechnung oder einen Strafzettel für zu schnelles Fahren handeln. Aber dann sei nichts in dem Umschlag gewesen, keine Nachricht, kein Brief.
»Vielleicht ist es ja eine Art Missverständnis oder Versehen. Und die Umschläge sind gar nicht für dich«, schlägst du Effie vor.
Effie schüttelt den Kopf. Nein, die Briefe seien alle an sie adressiert gewesen. Effie Krohn habe auf dem Umschlag gestanden. Mittlerweile habe sie bereits sieben dieser Briefe erhalten, immer im Abstand von etwa drei Tagen.
»Vielleicht sind sie ja von deinem Vater«, werfe ich ein. Noch während ich die Worte sage, fühle ich mich clever, wie ein Außenstehender, ein Detektiv, der alle Puzzleteile zusammengefügt hat, während die Beteiligten noch dumm dastehen und sich die Augen reiben. Aber kaum, dass der Satz gesprochen ist, friert der Raum ein. Niemand sagt etwas. Deine Mutter beginnt, das Tischtuch glatt zu streichen, und ich betrachte ihre Hände. Zum ersten Mal denke ich darüber nach, dass sie ihren Ehering nicht mehr trägt, und ich frage mich, wann sie ihn abgenommen hat, vor wie vielen Wochen, Monaten oder Jahren hat sie aufgehört darauf zu warten, dass dein Vater zurückkommt?
»Es könnten natürlich auch Kinder sein«, sagt deine Mutter, nachdem einige Sekunden verstrichen sind.
»Wahrscheinlich hast du recht«, antwortest du.
Die Gewissheit, einen Fauxpas begangen zu haben, ist so erdrückend, dass ich den Rest des Gesprächs nichts mehr sage. Auch Effie und du sprechen nur noch wenig und wenn, dann wie Schauspieler, denen das eigene Stück suspekt ist. Kurz nach zehn sagt deine Mutter, dass sie müde sei und lieber ins Hotel zurückgehen würde.
Ich denke noch oft an dieses Gespräch, denke an den Blick, den Effie mir zugeworfen hat. Und dass sie ihn weniger geworfen als geschossen hat. Lange Zeit habe ich diesen Blick nicht durchschaut. Es lag mehr darin als bloß Entsetzen über meinen Mangel an Taktgefühl, über mein vorlautes Mundwerk. Es war auch keine Wut, Traurigkeit oder Scham. Heute glaube ich, den Blick verstanden zu haben: Sie war erstaunt, überrascht, dass ich von deinem Vater wusste. Sie muss davon ausgegangen sein, dass du mir in den zwei Jahren unserer bisherigen Beziehung nichts von ihm erzählt hast.
Effie hat bestimmt nicht gedacht, dass ich die letzte Frau in deinem Leben sein würde.
Sie hat bestimmt nicht gedacht, dass nach mir niemand mehr kommen würde.
II
Die Geschichten aus dem Krakenhaus
Man ist sich nicht einig. Man spekuliert viel und weiß wenig.
Die einen sagen:
Du bist nicht mehr du, denn das, was einmal du warst, ist bloß noch ein Körper. Und was darin lag – hier sprechen wir von Seele oder Geist oder Identität –, das ist fort, hat sich aufgelöst oder zersetzt, ist davongeflogen,
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