Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Gesichtszügen wiederzufinden, in ihrer Art zu sprechen und sich zu bewegen. Auf dem Foto habe ich Ähnlichkeiten entdecken können, aber jetzt sind es nur die Unterschiede, die mir ins Auge springen.
»Und was machen Sie?«, fragt Effie mich plötzlich.
Wie immer, wenn ich angespannt bin, habe ich Schwierigkeiten, die einfachsten Sätze und Fragen richtig zu verstehen. »Ich esse Torte«, sage ich und steche in mein Tortenstück.
Erst als du lachst, verhalten und ein wenig besorgt, verstehe ich, dass deine Mutter natürlich nicht wissen will, was ich jetzt in diesem Moment mache, sondern allgemein und mit meinem Leben.
»Ich promoviere«, sage ich.
»Da müssen Sie aber schnell gewesen sein. Mit ihrem Studium.«
Ich bin unsicher, ob Effie auf mein Alter anspielt oder mir ein Kompliment machen will.
»Eigentlich nicht, ich bin ja schon fast dreißig«, sage ich.
Einen Moment bilde ich mir ein, die Zahl sehen zu können, in aufdringlicher Neonschrift prangt sie in der Mitte des Tisches.
»Und über was genau schreiben Sie?«, fragt Effie weiter.
Vor Komitees und Kollegen, in Kolloquien spreche ich gern über meine Arbeit, zuversichtlich und sicher bewege ich mich durch Quellen, Fakten und Formulierungen. Doch vor Effie geht es mir wie auf einer Party, wenn ich versuche, unterhaltsam zu sein. Ich stocke, hasple, meine Worte scheinen angestrengt, steif und herablassend.
Als Nina und ich noch Kinder waren, die sich laut und regelmäßig stritten, warfen wir uns neben den gängigen Beschimpfungen auch solche an den Kopf, die wir uns selbst ausgedacht hatten. Wegen ihrer Affektiertheit nannte ich Nina Ninnitinni und machte sie mit hoher Fistelstimme nach. Wegen meiner besserwisserischen Art nannte Nina mich Schlau-Marie und später dann Schlaum-Marie, ein Wort, das ihr besonders gefiel, weil es sie neben »schlau« auch an »Schleim« erinnerte. Auch heute, Jahre später und obwohl wir längst erwachsen sind, uns nicht mehr über den Teppich rollen und an den Haaren ziehen, sondern höflich am Telefon miteinander sprechen, fällt mir Nina manchmal ins Wort – immer dann, wenn ich ihrer Meinung nach zu umständlich und fremdwortlastig erzähle. »Marie, sprichst du gerade Schlaum? Kann das sein?«, fragt sie, und es treibt mich noch immer zur Weißglut. Vielleicht und vor allem, weil ich denke, dass sie recht hat.
Als Effie mich nach meiner Arbeit fragt, will ich vor allem eines: nicht Schlaum sprechen. Ich räuspere mich. »Es geht …«, ich stocke, »um die kulturelle Rezept… also darum, wie im kulturellen Raum, wie … wie in der Gesellschaft Wissenschaften oder eher Pseudowissenschaften oder eher pseudowissenschaftliche Entdeckungen und Strömungen – Trends sozusagen – wie sie diskutiert wurden. Vor allem im medizinischen Disk… Bereich. Das ist also in etwa das Hauptthema.«
Schlaum. Ich brauche keine Nina, um mich darauf hinzuweisen, ich weiß es auch so. Aber statt mich gleich geschlagen zu geben, denke ich an Lotta, denke daran, wie es ihr gelingt, anscheinend jeden für alles interessieren zu können, weil sie es in lustige, leicht verständliche Anekdoten verpackt.
»Man dachte zum Beispiel«, fahre ich fort, »dass man Krankheiten – psychische Krankheiten etwa – durch das Vermessen des Schädels nachweisen könne oder durch Druck auf die Geschlechtsorgane heilen könne. Also …«
Unter dem Tisch greifst du nach meiner Hand und drückst sie kurz. Ich sinke in die Polster der Bank zurück, um unauffällig mit dem roten Leder zu verschmelzen, weniger Mensch und mehr Inventar zu sein. Dann nehme ich ein großes Stück von der Eierlikörsahnetorte. Wenn ich etwas im Mund habe, werde ich wohl aufhören zu sprechen, außerdem hoffe ich, von dem Eierlikör zumindest ein bisschen betrunken zu werden.
*
Ohne dass wir darüber sprechen müssten, weiß ich, dass ich keinen guten Eindruck auf Effie gemacht habe. Endgültig verderbe ich es mir mit ihr allerdings erst bei unserem dritten Aufeinandertreffen. Unsere erste Begegnung bei Kaffee und Eierlikörsahne liegt zu diesem Zeitpunkt bereits ein gutes Jahr zurück.
In der Zwischenzeit sind wir zusammengezogen. Wir haben nun eine gemeinsame Küche, ein gemeinsames Wohnzimmer, eine ganze Wohnung drum herum, einen Balkon und ein Klingelschild mit unser beider Namen darauf. Wir haben zwar keine gemeinsamen Freunde, aber wir haben deine Freunde, und ich gewöhne mich an die Puppenmädchen. Wir haben zwei Katzen, Paul und Peter, wir haben eine
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