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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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kennen muss, bevor ich dich genauso lange kenne, wie dich Ariane kennt.
    Nur wird Ariane dich dann bereits zweiundzwanzig Jahre kennen. Ich werde Ariane nie einholen.
    Neben Ariane gibt es eine weitere Frau in deinem Leben, und ihr Name lautet Effie Krohn. Ähnlich wie Ariane begegnet mir auch Effie Krohn zunächst als Gespenst, das durch dein Leben spukt, das ich nie recht zu sehen oder zu fassen bekomme. Anders als Ariane lerne ich sie nicht über vorsichtige Erzählungen und Andeutungen kennen, sondern über die Spuren, die sie in deinem Leben hinterlässt. Effie Krohn schreibt dir Briefe auf dickem, marmoriertem Papier, und ihr Name steht in schnörkeliger Handschrift auf der Rückseite der Umschläge.
    Bisweilen ruft sie dich an, und obwohl du dich nie zu den Anrufen äußerst, weiß ich dann, dass sie es gewesen sein muss. Gleich nach dem Abnehmen trittst du einige Schritte zurück und sprichst noch leiser als gewöhnlich in dein Handy. Lange Zeit denke ich, Effie Krohn und du, ihr würdet euch furchtbare Geheimnisse zuflüstern, aber wenn ich Gesprächsfetzen aufschnappe, geht es immer nur um das Wetter, unbezahlte Handyrechnungen oder einen interessanten Kinofilm, der gerade angelaufen ist.
    Du verlierst nie ein Wort über Effie; nach den Anrufen schleichst du zurück zu mir und erkundigst dich nach dem Stand meiner Arbeit oder sprichst über das Abendbrot. Ich habe mir vorgenommen, dich nicht nach Effie zu fragen und abzuwarten, bis du mir aus eigenem Antrieb von ihr erzählst.
    Eines Nachmittags zeigst du mir die Portraitaufnahme einer streng aussehenden Frau, die mir bekannt vorkommt. Ich betrachte das Bild genau, unsicher, ob es sich um eine Fotografie handelt. Woher kenne ich die Frau? Ich bin ihr jedenfalls nicht auf der Straße begegnet, im Supermarkt oder in der Bibliothek. Nein, je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass ich ihr noch nie tatsächlich begegnet bin. Vielleicht ist sie ein Filmstar, denke ich und drehe das Foto um. Effie Krohn steht auf der Rückseite, und eine Jahreszahl, die ich zunächst nicht erkennen kann, dann aber als1884 entziffere. (Ich verschätze mich um ein ganzes Jahrhundert.)
    »Du hast doch gefragt«, sagst du, und einen Moment starre ich dich mit offenem Mund an. Sicher habe ich dich nie nach Effie Krohn gefragt. Oder habe ich etwa doch? Im Schlaf, im Weindusel, im Wahn?
    »Warum ich keine Fotos meiner Familie habe, das wolltest du doch wissen«, sagst du. »Das jedenfalls ist meine Mutter.«
    Effie Krohn. Deine Mutter. Von deren Namen ich mich habe in die Irre führen lassen.
    »Sie hat wieder ihren Mädchennamen angenommen«, erklärst du, als ich dich danach frage. »Aber sie wollte nicht, dass … ich sollte meinen Namen behalten.« Du ziehst die Schultern hoch, und ich weiß, dass dir das Gespräch unangenehm ist. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch wenig über deinen verschwundenen Vater, weiß nur, dass du ihn nie siehst und nie über ihn sprichst.
    Du hast dir Monate Zeit gelassen, mir das Bild deiner Mutter zu zeigen. Unsicher, was ich nun damit anfangen soll, gebe ich es dir zurück. Deine Mutter sieht schön aus und streng, und natürlich hat sie mich nicht an einen Filmstar erinnert, sondern an dich. Zumindest habt ihr den gleichen Mund und die gleiche Kopfform. Effies Augen aber und der Ausdruck darin haben nichts mit dir zu tun.
    Das Foto verschwindet wieder in der kleinen Kammer, und ich hoffe, dass es noch Jahrzehnte dauert, bis ich der tatsächlichen Effie Krohn begegnen werde.
    Es dauert keine Jahrzehnte, es dauert nicht einmal Jahre.
    Du verrätst mir zunächst nichts davon, dass Effie längst angekündigt hat, dich besuchen zu wollen. Obwohl ihr in den Wochen vor ihrer Anreise über mögliche Termine gesprochen und Pläne gefasst haben werdet, Ausstellungen und Theateraufführungen zu besuchen, obwohl du ihr von mir erzählt haben wirst, verlierst du mir gegenüber kein Wort darüber. Erst, als ihr Besuch nur noch wenige Tage entfernt liegt, fragst du mich beiläufig beim Frühstück: »Möchtest du meine Mutter kennenlernen?«
    Vor Schreck beginne ich, Salz in meinen Kaffee zu streuen.
    »Ich weiß nicht. Ich bin nicht besonders beliebt bei Müttern«, sage ich, als sei ich in meinem Leben bereits einer langen Reihe von Müttern vorgestellt worden.
    Deine Schultern sacken ein wenig nach vorne. Still streichst du Marmelade auf dein Brot, und es sieht traurig aus, das Messer, die Butter, sogar die roten Beeren.
    »Ich kann sie

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