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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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trennte sich die auf fünf Gefährten angewachsene Gruppe der Revolutionswilligen. John Blackburn lief einer Versammlung von Werkmeistern und Fabrikanten in die Arme, die sich in einem Lokal beraten hatten. Sein früherer Chef Brearsley redete ihn an.
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John, whear sre ta going? Tappin’ Ah expect! They’re all at ther work but thee.
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    Der wesentliche Subtext jener Tage war nicht, so ergänzt Engels die Beobachtungen von Marx, ob einer endgültig zur Seite der Fabrikanten oder der Seite der Arbeiter zählen würde, sondern das Interesse, zusammenzubleiben, in Gesellschaft zu gelangen und in ihr als Mensch angenommen zu werden. DER BRUDER MEINES URGROSSVATERS SCHLOSS IN JENEM MOMENT EINEN VERGLEICH MIT SICH SELBST UND MACHTE EINE WETTE : Wenn die übrigen Arbeiter der Spinnerei tatsächlich schon an ihrem Arbeitsplatz arbeiten, werde auch ich das tun. Sind sie aber nicht dort und ist die Rede des Masters Brearsley gelogen, dann gehe ich endgültig zu den Rioters.
    Tatsächlich waren die Arbeiter in der Mill am Werk. John Blackburn reihte sich ein. Zwei Jahre später war er Unternehmer.
Die englische Prägung
    Wir lügen nicht, wenigstens nicht, wenn wir mit uns selbst sprechen. Und wir lügen auch nicht, wenn wir unter uns sind, also reden, ohne daß ein Dritter zuhört. So sprechen wir, wie wir es täten, wenn wir in der Schulzeit in einer Pause miteinander Eindrücke austauschten. Auch wenn wir jetzt mit der Erfahrung vieler Jahrzehnte beladen sind: Letztlich haben wir Kinderverstand, also reden wir offen. Wir sind unterwegs im Dritten Reich. Was in den Büchern darüber steht, können wir oft nicht identifizieren. Die konkrete Zeit enthält eine Vielzahl an Situationen, Gesprächen, Eindrücken. Davon sind wir geprägt. Wir tauschten uns darüber aus, wie alles Erlebte durch die Reden mit unseren Nächsten in jener fernen Zeit überlagert ist. Wir können die Intimität der Schulklasse und die der Familie in uns nicht löschen. Nichts erlebt ein junger Mensch direkt ohne diesen Chor.
    So kommen wir in die NEUE ZEIT . An sehr verschiedenen Orten. Aber wir beide, die wir uns am Abend der Zeitumstellung (auf die Sommerzeit) zusammengesetzt hatten, waren nicht wie Jürgen Habermas, meine Frau oder viele andere durch die USA in die NEUE WELT eingeführt worden, sondern durch England.
    Entspannt fläzt sich Enzensberger auf seinem Sofa. An diesem Abend hat er seinen »Dienst« hinter sich: eine erfolgreiche Vorstellung seiner zwei Bücher, von mir flankiert. Es war doch anstrengend, sagt er, so lange vor Publikum auszuhalten. So ist er jetzt auf Abwechslung erpicht. Nichts ist abwechslungsreicher als die tiefe Vergangenheit. Kellner war er gewesen in Franken 1945 oder 1946 im Casino einer britischen Radarstation; sie befand sich inmitten der amerikanischen Besatzungszone. Er, H. M. Enzensberger, Junge für alles, Aushilfe. Gutes Englisch, hier erworben und in der Schule ergänzt. Auch als Schwarzhändler tätig. Dinge organisieren und dorthin bringen, wo ein Bedarf ist. Man lernt die Gesetze des Marktes nirgends so konkret wie als Angehöriger eines von der Besatzungsmacht regierten Volkes, sozusagen unter dem Druck der Illegalität. So verdiente sich der künftige Dichter seinen ersten Auslandsaufenthalt in Großbritannien, im faszinierenden London.
    Schon früher ich. Mit einem Flugzeug der Royal Air Force von Berlin nach Lübeck. Angeschnallt wie Gepäck auf Blechgestellen im Gepäckraum der Transportmaschine, 15jährig. Mit Bahn zum belgischen Einschiffungshafen. Das alles ist im Nachkriegsdeutschland unbekanntes Gelände.
    London ist keine Stadt, die Verachtung für den kolonialen Status breiter Gebiete der Welt lehrt. Das erwähnt Enzensberger. Noch immer vermag er Indien, die sechs Wirtschaftszonen Afrikas mit den aufgeregten Augen eines Europäers von 1948 zu sehen.
    Ich, voller Naivität, war Gast eines ungarischen Unternehmerpaares von Emigranten in London. Eines Tages stiegen sie, erzählten meine Gastgeber, noch in der Friedenszeit der dreißiger Jahre, mitten in Deutschland aus dem D-Zug nach Budapest aus, weil eine mittelalterliche Stadt sie neugierig gemacht hatte. In Goslar hatten sie die Altstadt und eine Kaiserpfalz besichtigt, das mußte es gewesen sein: ein Schatzfund, bis dahin übersehen auf den vielen Fahrten zwischen London und Budapest. Sie konfrontierten diesen Eindruck mit den Massakern in Auschwitz. Ich: So etwas, das von Auschwitz berichtet wird, tun deutsche Polizeibeamte nicht.

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