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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Zeitalter, hält den Norden und den Süden des Landes, unvereinbare Gesellschaften, zusammen. Die Utopie eines besonderen, nationalen Weges zum Kommunismus gibt den Wochen der Revolution einen diffusen Glanz, ähnlich einem sehr frühen Morgennebel an der Küste, den die Sonne von der Landseite her bestrahlt. Eine Utopie der Arbeiterklasse ganz im Westen Europas, obwohl (oder gerade weil) es dort praktisch keine Industrie gibt.
    Jahre später ist dieser märchenhafte Kokon abgestreift. Portugal tritt der Europäischen Union bei. Die Hilfen, die es erhält, werden »nicht vorteilhaft für das Land verwendet«. Der Beitritt zur Eurozone wird akzeptiert. Und jetzt sind, so fährt Hasselbusch fort, Wölfe eingebrochen, die niemand kannte. In ein mittelalterliches, isoliertes Land hätten sie nie Eingang gefunden. Jetzt sind Experten aus Brüssel und von jenseits des Atlantiks angereist: die Rechner des IWF , die Entscheider und Liquidatoren des Euro-Rettungsfonds, die Sektionschefs und Administratoren der Kapitalprozesse und damit der Spätkapitalismus, so Hasselbusch, in seiner angriffslustigsten Gestalt; nicht einmal er selbst, sondern seine Imitatoren zerlegen das Land.
    Kennt man Mittel des Aufstands, die sich gegen diese im Rechenwerk der Schulden verborgene Autorität wenden lassen? Wie kann ein Volk hier seinen Protest durchsetzen? Auf welchen öffentlichen Plätzen kann man demonstrieren, wenn man die Ebene der neuen Okkupatoren, die keine Römer sind, erreichen will? Wenn Portugal außer einer mittelalterlichen Kooperation eine besonders flexible Seefahrernation ist, führt dann ein Weg, fragt Hasselbusch, aus der Not zurück ins alte Reich zu den Kolonien, ins Unwirkliche oder nach Brasilien?
Ein getreuer Beobachter von Portugals Entwicklung
    Er war ein Charakter, alle seine Haltungen waren also von tief eingeprägten Merkmalen bestimmt, ein Ostfale 36 , er galt als stur. Das zeigte sich schon in der Gruppe, der er auf der revolutionären Universität in Frankfurt am Main angehörte. Bekannt war er dafür, daß er für die einzelne politische Aktualität seine Trägheiten nie aufgab und, als alle anderen politische Vereine gründeten und sich in Fraktionen zerstreuten, das Prinzip der Spontaneität, der permanenten Revolutionierung, nie negierte. Dann begegnete ihm die Überraschung, DAS POLITISCHE ERDBEBEN , das bis in die Wohngemeinschaften von Frankfurt-Nordweststadt hineinwirkte: Das war die Revolution in Portugal, die man später die Nelkenrevolution nannte.
    Der Sog dieser Bewegung zog die Genossen aus Deutschland an die Atlantikküste. Über Frankreichs und Spaniens Straßen fuhren die Mitfahrergruppen, darunter der sture Horst Hasselbusch, durch die Grenzwüsten, welche die spanischen Westprovinzen von den portugiesischen Ostprovinzen seit 1000 Jahren trennen, auf Lissabon zu! Sie suchten am revolutionären Ort die Stelle, die auf sie paßte. Sie wollten helfen, sich einbringen. Es gab 77 Protokolle von Teach-ins, welche noch in der Frankfurter Nordweststadt die aktuellen Geschehnisse in Portugal einzuordnen gesucht hatten. Bei ihrer Ankunft erwies sich alles als abwegig. Die erregten Aufständischen in Lissabon, Republikgründer, waren nicht eingestellt auf hilfsbereite deutsche Genossen. KEINE ZEIT FÜR ALLE . Hinzu kam die Sprachgrenze. Es gab aber auch ein Mentalitätsgefälle, so Horst Hasselbusch. Die revolutionären Geister verschiedener Länder verstanden einander nicht spontan.
    Heute, im Jahre 2011, könnte man sich durchs Internet die Kenntnisse verschaffen, die für die Beurteilung einer gegenwärtigen Situation in Portugal erforderlich sind. Das hätte im Jahre 1974 noch Schulungen, Kurse der Erwachsenenbildung, ja eine radikale Wissenserweiterung erfordert. Die aus Deutschland herangereisten Genossen meinten zu erkennen, worin sich die portugiesischen Gefährten irrten. Es gab aber keine Mitteilungsform, in der die Portugiesen sich hätten erklären und die deutschen Revolutionäre ihre Thesen hätten interpretieren können. Schwerfällig im Gemüt und so langsam, wie sein Körper reagierte, lernte Hasselbusch hier vor Ort eine junge portugiesische Genossin kennen, die sich ihm hingab und zwei Tage später ohne Abschied verschwand. Das verankerte ihn »auf ewig« auf portugiesischem Boden. Die Überraschung, die er nachträglich empfand, und die Trauer zugleich schlugen ihn in Bande. Ganz ausgefüllt mit Unbehagen, bewahrte er – am Boden des Gefühls – die Empfindungen eines

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