Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Dichters ist aber triebhaft und unbezwinglich.
Begegnung im Turm / Ein Sansculotte war der Dichter nicht
Eine komplette Serie von Mißverständnissen begleitete, wie Peter Weiss und neuerdings auch Alexander Honold berichten, den Besuch des jungen Karl Marx (als dieser noch Redakteur der Rheinischen Zeitung war) im Turm, in welchem der schon gealterte Hölderlin einsaß. Der Dichter war dem jungen Autor als der »Sansculotte Hölderlin« bezeichnet worden. Marx war nach Tübingen gekommen, um ihn zu fragen, wie er als noch lebender Beobachter die Große Französische Revolution wahrgenommen habe, von Deutschland aus in die Ferne blickend. Auch müßten seine Wanderung zu Fuß durch Frankreich und die »Restauration unter Napoleon« Eindrücke hinterlassen haben. Es waren 16 niedergeschriebene Fragen, die Marx dem Einsiedler vorlegte, der etwas abwegig in seinen Gesten und Reden erschien. Keine davon beantwortete Hölderlin, der sich mit anderem Namen nannte. Der einfühlsame Marx glaubte aber zu bemerken, daß einige der Fragen verstanden worden waren und daß der Dichter lediglich eine »verbergende« Antwort geben wollte. Die Fragen waren ja auch tatsächlich nicht in einer Weise gestellt, wie jemand, der dichterische Veranlagung fühlt, sich über die Zeitgeschichte zu äußern vermag, insbesondere nicht ein Autor (so beurteilte Marx das Metier Hölderlins), der sich auf einzelne äußerliche Tatsachen konzentrierte, wie sie nicht in den Zeitungen standen. Umgekehrt kann man, sagte sich Marx, nichts über Paris erfahren, wenn man auf den Unterschied zwischen der Röte eines Herbstlaubs und der Färbung des Abendrots blickt, welches sich minütlich verändert, und nach Ausdrücken sucht, das Verglichene in Worte zu fassen. Solche Unterschiede waren gewiß vielgestaltig, aber doch untauglich, politische Bewegungen aus der Ferne zu beurteilen. So zog sich das Gespräch hin. Auch war die Reise lang gewesen. Die Begegnung sollte sich lohnen. Marx hatte IN VERDICHTETER ZEIT keine Lebenstage zu verschenken.
Der verquere Dialog kam auf Bonaparte. Hölderlin hatte ihn mit dem AUGE DES DICHTERS (»heilige Gefäße sind die Dichter«, formulierte er) in Ägypten und dann wieder in Paris verfolgt. Der Tribun (oder General, verbesserte Marx) habe aber, so Hölderlin, im Gedicht nicht verharren wollen. Er sei stets aus dem Rahmen des Heldengedichts, das ich ihm widmete, herausgetreten. Entweder sei er in der Welt neu aufgetaucht oder habe überhaupt nur dort gelebt. Doppelgänger sei er jedoch nicht. Er bewege sich unerwartet, sozusagen »unfaßbar«.
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»Er kann im Gedichte /
nicht leben und bleiben /
Er lebt und bleibt /
In der Welt.«
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Der Eindruck, den das Gespräch auf Marx gemacht hatte, war widersprüchlich. In politisch-ökonomischer Hinsicht schien der Dichter ihm ein Wirrgeist, anders als Marx sich zu diesem Zeitpunkt Heinrich Heine vorstellte. Es mußte aber, wenn es Revolutionen gab, auch andere Sprachen geben als die Geschäftssprache oder die, in welcher Zeitungen sich ausdrückten. So legte Marx ein großzügiges Raster an. Merkwürdig die Fesselung des Geistersehers im Turm an dieses einsame Gebäude. Die Einladung zum Abendessen in der Stadt schlug Hölderlin aus. Marx hatte einige Aussprüche des alten Mannes aufgeschrieben, überhaupt mehr Notizen angefertigt, als er an Fragen mitgebracht hatte. Es war aber später kein Artikel daraus zu machen. Ein Sansculotte war der Dichter nicht.
Wie ein Land durch verspätete Revolution unter die Räuber kam
Horst Hasselbusch notiert: Da kapselt sich ein mittelalterliches, als Seefahrernation auch in der frühen Neuzeit verwurzeltes Land, das sich durch die Schutzmacht England in seiner Isolierung und Neutralität als gesichert betrachtet, unter einer Serie konservativer Diktaturen ein. Lange Zeit bleibt es von den Konflikten der übrigen Welt unberührt. Es nutzt die Ressourcen seiner Kolonien mit einer trägen, mittleren Grausamkeit. Ein anderes Stück des ursprünglichen Reiches, das dieses lange Leben als Ruine führte, Brasilien, hat sich selbständig gemacht, die Sprache dort hat sich weiterentwickelt, die beiden Länder, in denen portugiesisch gesprochen wird, verhalten sich zueinander wie Parallelwelten.
Abb.: Der »Krummes« sinnende Saturn.
Dann stößt die Revolution von 1974 Portugal in die Realität des 20. Jahrhunderts hinein. Zunächst mit Eigenheiten des Märchens: ein Präsident mit Monokel, offensichtlich aus einem früheren
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