Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Regierung im Weimarer Klassik-Revier ein eigenes Terrain gegenüber dem Dichter- und Philosophenkreis, in dem er sich sonst rivalisierend bewegte. Hier, im Feld der Geschichte, und zwar der Freiheitsgeschichte, besaß er eine Alleinstellung. Er blieb auch ungehemmt, sich diese freie, im Kampf sich begründende Batavische Republik in den Einzelheiten vorzustellen. Alle Nachrichten, Quellen und Berichte konzentrierten sich auf das Allgemeine und auf die Episoden; in den Lücken dazwischen war reichlich Platz für SCHILLERS KONTEXT .
In der künstlerisch-geschichtsschreibenden Verdichtung stand der Kampf gegen die gnadenlose Nordsee, der das niedrig gelegene Land, tiefer als der Meeresspiegel, durch gemeinschaftlich errichtete Dämme schützte, auf einer Höhe mit dem Wall aus Menschenleibern und dem städtischem Geist, der die andringende fundamentalistische Flut aus Spanien aussperrte. Niemals gelang die Unterwerfung der VEREINIGTEN GEMEINDEN . Schlimm genug war die Teilung des Landes.
Schiller neigte dazu, in Blankversen zu schreiben. Gern wäre er bei der Schilderung der dramatischen Freiheitsepoche zu Reimen übergegangen. Und das hätte er auch ausgeführt (weil er ja bereits rhythmisch memorierte), hätte er mit einem zweiten Dichter, einem ungehemmteren jüngeren wie Heinrich von Kleist, zusammenarbeiten können. Doch der war nicht vor Ort.
Die Pranke der Natur erscheint bei Schiller in der Gewalt der Wassermassen bei Nordsturm und bei bestimmter Stellung des Mondes, welche die Flut verstärkt. Ähnlich (und hier würde man, so Schiller, eigentlich einen Chor und einen Wechsel der Sprache benötigen) wälzt sich die Schwappwelle der Fundamentalisten von Süden heran (die spanischen Terzios marschieren von Mailand über den Maloja- und den Julierpaß sowie über Chur das Rheintal hinauf). Und für diese Beschreibung braucht man einen Chor, so Schiller, und einen Wechsel der Sprache. Gegensatz: Die Wirkung erfolgt nach den Eindringgesetzen des Wassers, der die Truppe erfüllende Geist dagegen ist starr. Was ist im Gemeinwesen der Freiheit anders? Welche flexible, quasi flüssige Intelligenz ermöglicht derart zahlreiche gelingende Verhandlungen, so daß Dammbau und Kriegsführung auf Seiten der Batavischen Republik einem permanenten Friedensschluß und nicht einem ewigen Krieg ähneln? Inwiefern kann man behaupten, fragt Schiller, daß selbst der Mauerbau gegen das Meer eher einem Verständigungsfrieden, also einer Kooperation, als einer bloß negativen Abwehr gleicht? Weil doch, so Schiller, die Dämme »mit Rücksicht auf die eigentümlichen Charaktere des Sturms und des Wassers gebaut« sind. Dies zu ersinnen ist nicht Sache eines Einzelnen, sondern der Kommune.
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Die vergrabenen Hirne am Rhein
Die vergrabenen Hirne am Rhein
Wenn die Eltern viel beschäftigt sind und Zeichen ihrer Nichterreichbarkeit setzen, suchen Kinder aus bürgerlichem Hause Kontakt zu Haushalten, in denen sie willkommen sind. Ich kannte das Hauswartspaar Laube in der Bakenstraße. Dort lief ich zu. Willi Laube war als Hausmeister und Chauffeur bei einer Herrschaft tätig. Seine Frau arbeitete als Putzfrau.
Als SA -Mann war Laube in der Position, andere Leute in der Stadt, auch seinen Dienstherrn, zu erpressen. Das tat er nicht. Der ruhmreiche Status als Parteigänger der siegreichen Bewegung änderte nichts an seiner Lebensweise, an seiner bescheidenen Wohnung. Laube ging davon aus, daß man den politischen Status nicht zum persönlichen Vorteil nutzen dürfe.
Ich kannte den Jungen aus dieser Familie, wurde zum Mittagessen zugelassen, anschließend zum Nachmittagsschlaf gelegt und abends zu Hause abgeliefert. Daß sie wie im Hexenhäuschen fremde Kinder aufnähmen und ihren Familien entzögen, wäre ein schwerer Vorwurf gewesen. So waren sie interessiert, mich zu versorgen und rasch wieder loszuwerden.
Über dem Sofa im Wohnzimmer der Familie Laube, auf dem ich Mittagsschlaf hielt, war ein Gobelin aufgespannt (von keiner kostbaren Herkunft). Dort war der Rhein dargestellt, umgeben von Burgen. Offenen Auges, weil Schlaf nur Pflicht war, starrte ich auf das Bild. Willi Laube erzählte, daß dies eine historische Landschaft aus der Zeit sei, in welcher die Menschen noch Zauberkräfte besessen hätten. Davon erzählte er Geschichten. Wo steckt diese Zauberkraft? Sie findet sich in den Gebeinen dieser deutschen Vorfahren, so Laube, in den Schädelknochen der Toten, die man ausgraben könnte, wenn man sich die Mühe machen würde.
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