Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Überall in den Journalen sah man in jenen Tagen Arbeitsbataillone mit Spaten, die irgend etwas gruben. Vermutlich wollte der Nationalsozialist Laube andeuten, daß eine gewisse Substanz der Vorfahren in unseren heutigen Köpfen wiederauferstehen könnte. Auf meine Fragen hin schloß er nicht aus, daß eine Suche nach dieser zauberkräftigen Substanz in den vergrabenen Gehirnen einen Sinn haben mochte; nicht von selbst kämen unsere Ahnen uns zu Hilfe, wir sollten ihre Zauberkraft suchen. So daß sich entweder durch ein Konzentrat solch ehemaliger Geisteskräfte (das ich mir als ein Pulver vorstellte) wir uns die frühe Gewalt einverleiben oder sie in einem Gefäß aufbewahren könnten, von dem eine »belebende Strahlung« ausginge.
Dies schien mir in den langen Minuten des pflichtgemäßen Nachmittagsschläfchens, die offenen Augen auf den Gobelin gerichtet, der zentrale Prozeß des NATIONALSOZIALISMUS zu sein, von dem soviel gesprochen wurde: der Transport von Zauberkräften unserer Vorfahren in die Gegenwart zur besonderen Ausstattung vor allem von Jugendlichen, zu denen ich mich zählte. Die derzeitig Erwachsenen, gleichgültig wie sie waren, würden bald überholt sein, und es war wichtig, den Anschluß an diesen Prozeß nicht zu versäumen. Man sollte sich baldmöglichst zum Rhein aufmachen und tief graben, einem Fluß, von dem ich inzwischen – als Erwachsener – weiß, daß er die Tendenz hat, wie es Hölderlin beschreibt, sein Bett zu verlassen und nach Osten auszubrechen, wohin ihn die Sehnsucht treibt, wo er aber seine Wassermassen nicht zu plazieren vermag.
Der Strom der Gene am Rhein
In der Nacht, welche auf die Beerdigung von Peter Schamoni folgte (den er als Freund betrachtete seit jener Notzeit, in welcher der 70jährige Schamoni eine 29jährige geheiratet hatte, eine Ehe, die rasch scheiterte), entwarf der Filmemacher Edgar Reitz das Projekt »Heimat 5: Der Rheinstrom«. Auf sieben Stunden Vorführzeit war der Film geplant. Im Gegensatz zur HEIMAT - TRILOGIE und dem Projekt »Heimat 4: Die Auswanderer« ist nicht mehr die Ortschaft Morbach im Hunsrück (im Film Schabbach) der Ausgangspunkt. Zentrum der Handlung ist die »Völkermühle Rhein«. Fährt man nämlich von Morbach an der Stelle, an der es konsequent bergab geht, immer voran, gelangt man an den GROSSEN STROM . Gegenüber liegt der Rheingau, rechts Bingen und Mainz, flußabwärts Koblenz und die Niederlande.
In dem Film geht es um die Abstammungsketten, den STROM DER GENE , die sich den Fluß hinab und zu beiden Seiten ins Land ziehen. Erzählt wird die Geschichte eines spanischen Offiziers, der an drei unterschiedlichen Stellen Nachkommen hinterließ. Andere Filiationen kommen aus der Zeit, in welcher das linke Rheinufer bis 1815 ein Departement Frankreichs war. Den Grundstock aber bilden Kelten und Römer.
Es geht um sieben Protagonisten der Jetztzeit, die miteinander in Verbindung stehen, weil sie in sich den Fluß von 132 Voreltern tragen, darunter Blitzbesucher wie der spanische Offizier, aber auch beharrliche Frauen, die ihr Glück suchten oder einen Ausweg in der Not. Der Film kann diese Protagonisten, auch wenn sie längst tot sind, lebendig ins Bild setzen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn Geologen Gesteinsschichten untersuchen.
Abb.: Andernach.
Sprachvermittelter Neugeist
Der Landstrich, der von der nordafrikanischen Atlantikküste über den Nahen Osten bis zum Zagros-Gebirge reicht, war ein fruchtbarer Garten: vom Nordpol zum Äquator hin gesehen unterhalb der Gletscherkette, die Europa bedeckte. Mit Zurückweichen des Eises verlagerten sich dann die atlantischen Regenwinde nach Norden. Der zuvor fruchtbare Landstrich und Garten trocknete aus. Die dort Zurückbleibenden wurden in die Oasen gedrängt. Fred Pumpelly behauptet aber: Nicht ökonomischer Zwang, sondern die inneren Äcker der Sprache, Spiegelbild jenes Landstrichs zwischen Atlantik und Zagros in seiner glücklichen Zeit, seien der Grund für den NEUGEIST , der dann auf Inseln, praktisch in Notstandsgebieten, die Zivilisation schuf.
So ist auch Edgar Reitz bei der Vorbereitung seines Films über die Hunsrücker, die um 1840 nach Südbrasilien emigrierten (sie verließen ihr Land im Bewußtsein, daß sie nie zurückkehren würden), zu der Überzeugung gelangt, daß nicht die Not, von der es in jenem Bergland genügend Vorrat gab, sondern die Einführung der Schulpflicht nach 1815 (das heißt die potenzierte Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, also
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