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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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besaßen die Sicherheitsorgane des Staates.
    Noch hatte die Revolution ein undeutliches Gesicht. Sie fand auf großen Plätzen in den Städten, vor allem in der Metropole Kairo, statt. Gab es die Bewegung auch auf dem Lande? Was war die Haltung der Ladenbesitzer, deren Läden infolge des Aufruhrs geschlossen bleiben mußten? In den Bunkern des Innenministeriums und im Palast des Präsidenten gab es Teams, Berater, Entscheider, die an diesen Fragen rätselten. Geheimdienste befreundeter Mächte übermittelten Vorlagen. Auch sie wußten nichts Präzises. 87 Aufträge waren vom Pentagon und von Stiftungen an die Universitäten Stanford, Harvard, Princeton und Yale vergeben worden: zur Erforschung des Begriffs der Revolution. Innerhalb der sieben Geheimdienste der Republik Frankreich (einige Mitarbeiter fertigten darüber Notizen an, kommunizierten auch mit dem Élysée) fiel auf, daß man seit dem Fehlschlag des Suez-Feldzugs von 1956, ja seit den Publikationen von Bonapartes Expeditionskorps, nichts elementar Neues über Ägypten wußte. Der stellvertretende Präsident, der Husni Mubarak vertrat, sah in der Runde, die vor ihm saß, Repräsentanten von Kräften, die er aus der Zeit vor dem Aufruhr kannte: Vertreter der Muslimbruderschaft, Anführer von Organisationen, welche die Staatspartei ausgegliedert hatte und von denen er wußte, daß sie niemanden dort draußen zu vertreten vermochten, Jugendführer, Anwälte von NGO s; über fast alle besaß Omar Suleiman, der bis vor kurzem Sicherheitschef des Landes gewesen war, Dossiers. Zweifelhaft schien ihm ihre Vertretungsmacht für Gruppen, die den Tahrir-Platz besetzt hielten. Politiker wie el-Baradei hatte er in die Runde nicht eingeladen, da sie zwar eine Alternative zur Staatsmacht darstellten, kaum aber eine Legitimation aus den Bereichen des Aufstands besitzen konnten. Im Kreis der Berater des stellvertretenden Staatspräsidenten, die auf den Fluren und in den Büros des Innenministeriums arbeiteten, kam für etwa fünf Stunden der Gedanke auf, die Staatsmacht solle sofortige Neuwahlen organisieren. Man hoffte, daß die Provinzen den Aufruhr in den Metropolen niederstimmen würden. Es erwies sich aber, daß logistisch Wahlunterlagen nicht rasch zu beschaffen waren, die eine doch wohl öffentlich und auch international beobachtete Wahl ermöglicht hätten. Auch sei es ein Glücksspiel, sagten einige der Berater, eine solche Aktion zu wagen.
    Im Bayerischen Hof in München fand zu diesem Zeitpunkt die jährliche Sicherheitskonferenz statt ( MSC ). Die Tagesordnung und alle Panels waren entgegengesetzt zur aktuellen Lage festgelegt: Gravitatives Zentrum sollte die Unterzeichnung der START -Verträge durch Secretary of State Hillary Clinton und den russischen Außenminister Lawrow sein. Hinsichtlich der Tagesereignisse standen die Teilnehmer also mit dem Gesicht in falscher Richtung. Der Plenarsaal leerte sich, bemerkte der Beobachter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung . Auf den Gängen und in den Appartements der Delegationen ging es ausschließlich um den Nahen Osten. Im Laufe des Tages zeichnete sich eine Linie des Einvernehmens dahingehend ab, daß die Administration und der Präsident in Ägypten zunächst aushalten sollten. Niemand konnte sagen, was auf eine Implosion des Regimes folgen würde.
    Dr. Arnoldi von der American Enterprise Inc., der sich vorsichtigerweise in Alexandria niedergelassen hatte (immerhin mit einem Stab von 24 Leuten, die im Gefahrenfall jederzeit von hier aus nach Zypern oder Kreta gerettet werden konnten), hielt eine umfassende Demokratiebewegung in ganz Ägypten für unwahrscheinlich. Ägyptens Bodenbearbeiter haben seit 6000 Jahren nie die Regierung selbst übernommen (anders als Chinas Bauern, aus denen Kaiser hervorgingen), urteilte er in der Runde. Wie in einem Insektenstaat bestehe Arbeitsteilung zwischen Herrschern und den »Hintersassen des Nils«. Das könne doch aber inzwischen anders sein, entgegnete Dr. Donovan, den Dr. Arnoldi nicht liebte, da er stets schon aus Gewohnheit eine Gegenposition bezog. Immerhin sei die Relation zwischen der Landbevölkerung und den Einwohnern der Städte in den letzten vier Jahrzehnten drastisch umgeschlagen. Man muß genau beobachten, schloß der historisch kundige Dr. Arnoldi die Debatte.

    Abb.: An den Ufern des Nils. Die Bodenbearbeiter, die hier seit 6000 Jahren leben, haben nie selbst regiert.
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    Abb.: Regierende sind die Pharaonen, die Ptolemäer, die Römer (indirekte Herrschaft),

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