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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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selbständig sich äußern zu können) der Grund war, daß die Auswanderer aus plötzlichem Hochgefühl, aus Optimismus und nicht aus Verzweiflung sich auf den Weg machten, ihre neue Welt zu gründen.
Die mächtige Stimme der Erde, als sie noch mit dem Riesen Ymir identisch war
    Man muß sich die frühe Erde, behauptet der Filmemacher Andrej Tarkowski, mit ihren gewaltigen Wassermassen, tektonischen Schrunden, ihren Himmeln voller Feuer und dem nahen Mond, der das halbe Firmament verhängte, als ein mächtiges Gebrüll der Götter vorstellen. Auf diesen unglaublichen Eindruck, so Tarkowski, antworteten die frühen Menschen. Sie tragen den Klang der Gewalten, die sie draußen sehen, wie lebende Tempel in sich, Tempel mit aufrechtem Gang. Sie sättigten sich nicht bloß von Früchten des Waldes oder der Jagdbeute, sondern sind satt vom göttlichen Ruf. Tarkowskis Filmprojekt hatte den Arbeitstitel: »Der Riese Ymir«.
Keimruhe in kalter Zeit
    Im Salvator-Krankenhaus Halberstadt wurden im Mai 1945 drei medizinisch ungewöhnliche Fälle einer Zwölf-Monats-Schwangerschaft festgestellt. Diese Merkwürdigkeit konnte, so der skeptische Chefarzt, der den nationalsozialistisch-kompromittierten Dr. med. Dalquen abgelöst hatte, nicht dadurch erklärt werden, daß man sie auf einen Erinnerungsfehler der Schwangeren über den Zeitpunkt ihrer Empfängnis zurückführte. Skepsis (ein Derivat der Sachlichkeit) hat zwei Seiten. So zögerte dieser Chefarzt, seinen Zweifeln einfach zu folgen, wenn sich die Merkwürdigkeit offenbar in drei Fällen wiederholte. Das sprach gegen eine voreilige Annahme, es läge ein Irrtum vor. In seltenen Fällen, meinte der um Rat gefragte Facharzt der US -Truppen (der sich ein Büro im Salvator-Krankenhaus eingerichtet hatte und an dem Ärzteessen in der Kantine regelmäßig teilnahm), hatten wir in Minnesota eine KEIMRUHE bei Menschen. Wir kennen das bei Rehen im Harz, ergänzte der Oberarzt Dr. Bauerstörfer, der kein Nationalsozialist gewesen war und deswegen seine Stellung behalten durfte. Er besaß eine Jagderlaubnis bei Hasselrode (jetzt aber hatte er sein Gewehr abgegeben). Rehe empfangen im Sommer. Sie dürfen auf keinen Fall in der Kälte des Winters niederkommen. So wartet der Fötus geduldig auf den Frühling (das ist die Keimruhe), um erst dann, in den letzten Augenblicken, seine Vollendung im Mutterleib fortzusetzen.
    Die drei Frauen, die so verspätet entbunden hatten, kamen von weit her aus dem Osten. Sie berichteten von Flucht, drohender Vergewaltigung. Eigentlich hätten sie für die Geburt nie Zeit gehabt. Sie beharrten darauf, daß sie das Datum der Empfängnis richtig erinnerten. Eine Hilfe dafür war, daß sie das letzte Zusammentreffen mit ihren Männern (und in einem der Fälle dem Geliebten), die dann wieder an die Front zurückkehrten, sich notiert hatten. Auch eine Scheinschwangerschaft, der eine spätere Empfängnis folgte, war in diesem Raster der Tatsachen unwahrscheinlich. Auch waren Scheinschwangerschaften so selten, daß sie (zusätzlich mit der Folge der späteren Empfängnis) nicht in drei gleichzeitigen Fällen auftreten konnten. Das psychisch-physische Wunder, über das der US -Arzt sich vornahm in einer Ärztezeitschrift zu Hause zu schreiben, war offensichtlich »so ungewöhnlich wie die Kriegszeit, die wir durchleben«.
Unwirtlicher Harz
    Ein Gebirgsland in Deutschland hatte im Mittelalter üble Erfahrungen mit Besuchern und Besatzern gemacht. Fremde wurden seither hier in die Irre geführt und umgebracht. Das ging so lange gut, bis die Klöster der christlichen Zivilisation ein Netz über das Land legten. Wenn jetzt im Gebirge Reisende verschwanden, erschienen Verfolger, die nach den Vorfällen forschten und nach gewisser Ermittlung furchtbare Strafen verhängten. Das geschah so lange, bis auch in diesem Teil des Gebirges Fremde nicht mehr getötet wurden.
Irrfahrt von Tugenden und Lastern im Endkampf
    Den Dramatiker und Dichter Einar Schleef interessierte die STIMMUNG DES ENDKAMPFS im Harzgebiet im April 1945. Das war AUSNAHMEZUSTAND . Das war der ERNSTFALL . Es gab Leute in Sangerhausen, sagte Schleef, die behaupteten, man werde noch in 6000 Jahren von diesem Endkampf sprechen. Es verhält sich so, notierte Schleef, als ob sich die Seelenzustände der griechischen Belagerer und der trojanischen Verteidiger (im Vorgriff auf die kommenden Massaker und den Untergang der ROSSEBÄNDIGENDEN STADT ) miteinander vereinigt hätten. Und zwar so, wie Götter im Herzen

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