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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Verhandlung mit dem Suhrkamp Verlag nötig gewesen zum Zwecke literarischer Veröffentlichung und eine Art moderner Endkampf um die Aufführung des Stückes mit den Dramaturgen an den Bühnen in der Bundesrepublik und in Österreich, möglich aber auch die Rettung nach Paris, New York oder Sydney.
Tod eines Oberbürgermeisters von Leipzig
    Der Mann hieß Freiberg. Er hatte seine Frau und seine Tochter in sein Amtszimmer zitiert, vor einem Bild des Führers hatten sie, er an seinem Schreibtisch, seine beiden Gefährtinnen auf einem Sofa, ihrem Leben ein Ende gesetzt. Dies war von US -Fotografen nachträglich aufgenommen und in der Welt verbreitet worden. Ein Bild des Fanatismus.
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    SCHLEEF: Fanatismus, wenn doch keiner der drei etwas davon hatte?
    ICH: Sie hatten ihren Tod und Weltöffentlichkeit.
    SCHLEEF: Na toll. Das ist das letzte, was sie begehrten. Vom Feind sozusagen um die Mauern der Vaterstadt herumgeschleift zu werden.
    ICH: Das hatten sie sich sicherlich so nicht vorgestellt.
    SCHLEEF: Was mögen sie sich vorgestellt haben, als sie sich in diesem Amtszimmer, das doch nicht das gemeinsame Leben war, umbrachten? 37
    ICH: Wollten sie ein Zeichen setzen?
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    Genau das, sagte Schleef, glaube ich nicht. Sie waren verzweifelt. Irgendwelche Zeichen an andere wollten sie überhaupt nicht aussenden. Am 21. April bringt sich Walter Model in einem Buchenwäldchen um, ganz ähnlich dem, in welchem sich General Decker am selben Tag erschießt. Ich zeige deshalb die beiden Selbstexekutionen und die Fotoszene im Amtszimmer des Oberbürgermeisters in Leipzig nacheinander. Danach der Chor: »Mitten wir im Leben sind, von dem Tod umfangen.« Ich will damit ausdrücken, sagte Schleef, daß die Protagonisten zu einem früheren Zeitpunkt ihres Lebens ein glücklicheres Ende hätten wählen können: der Selbstmörder Freiberg, als er im Jahre 1926 heiratete und auswandern wollte aus Deutschland, im selben Jahr der Oberst Model (damals noch ein Frauenfänger, er hätte Theaterdirektor oder Unternehmer werden können), schließlich Karl Decker, der von Haus aus Ingenieur war.
    ABSOLUTER QUERSTRICH ZUM SCHICKSAL BRINGT TOD . Hätten die Protagonisten 1926 oder 1934 (bei Decker 1935) weniger gewollt, sagte Schleef, hätte der Ausgang milder sein können.
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    ICH: Wäre demgemäß die Willensstärke ein Laster?
    SCHLEEF: Sie ist ungut.
    ICH: Wäre sie eine Tugend, wenn der Tod kein zu hoher Preis ist?
    SCHLEEF: Wir sprechen von Selbstmord. Tod durch den Feind wäre kein zu hoher Preis. Selbsttod zeugt von Zweifel.
    ICH: Herr Schleef, Sie definieren also Tugend als zweifelsfrei?
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    Das gewiß, antwortete Schleef. Tugend bedarf keines Beweises.
Ein Sinnspruch der Pythagoreerin Theano
    Theano, die Frau des Pythagoras, schreibt: »Das Leben wäre ein Fest für die Bösen, wenn sie, nachdem sie Böses taten, einfach stürben. Wenn die Seele nicht unsterblich wäre, so wäre der Tod ein Glücksfall.« Diesen sechsten der neun Sinnsprüche, die von der Pythagoreerin überliefert sind, wollte Schleef als Schlußchor (Musik: Perpetuum Mobile von György Kurtág mit Sprechchor) an das Ende seiner Inszenierung von Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti im Berliner Ensemble setzen. In seiner Version des Stückes ist Herr Puntila Chef eines Freikorps im Baltikum. Solche Männergesellschaften unterwerfen sich Frauen, die wiederum die Truppe vorwärtstreiben gegen den Feind und zugleich die Truppe anleiten, die Bodenreform von 1919 durchzuführen. Zuvor war Einar Schleef in Nürnberg mit seiner Inszenierung von Wagners Parsifal zurückgewiesen worden. So waren alle Ideen, die er zu Wagners Gralsgemeinschaft entwickelt hatte, in das Drama von Puntila und seinem Knecht Matti eingewandert. Die Bösartigkeit der Protagonisten hatte sich verdoppelt, gejagt waren sie aber auch durch die Gefahr, im nächsten Leben (und in allen künftigen) ihre Taten wiederholen zu müssen. Nie kamen sie auf die Idee, keine bösen Taten zu verrichten, stets beschleunigten sie die Folge ihrer Taten. In dem Stück trat Einar Schleef in der Hauptrolle des Puntila selbst auf. Er geriet derart in Fahrt, daß er nie stotterte in den langen Reden, die Bertolt Brecht vorschrieb.
Die Stummheit der Weber im Menschenstrom von 1945
    Treu dem Endkampf waren Unteroffiziere und Feldwebel. Unteroffizier Olbers führte nach Flucht sämtlicher Offiziere seine vier Panzer in Richtung eines Flusses, über den es keine Brücke gab. Zu keinem Zeitpunkt überprüfte er seine

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