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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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eines jeden nisten, so nisten hier die Gegensätze, die früheren und späteren Freunde und Feinde, in derselben Brust und in demselben Kreislauf. Das wollte Schleef in einen Dreiakter für das Deutsche Theater kleiden. Aufführungsdauer: sieben Stunden. Er hatte sieben Kladden gefüllt und verfügte über zwei Hefter mit Fotos und Zeichnungen.
    In jenen Momenten, in denen Schleef, zerstritten mit allen Theaterleitungen in der Bundesrepublik und in Österreich, an diesem Konvolut oder Projekt arbeitete, gehörte zu seinen Einflüsterern ein französischer Marxist, der sein Domizil in einem der Institute Ostberlins aufgeschlagen hatte und zum Nulltarif Wissenschaftsdienst leistete. Er hatte Schleef eingeredet, man müsse in solchem Endkampf, wenn man nicht der Legendenbildung Vorschub leisten und heroisieren wolle, die IRRFAHRT GESELLSCHAFTLICHER VERHÄLTNISSE verfolgen. Damit hatte er gemeint, daß man die Kategorien von Karl Marx in einem solchen AUSSERGEWÖHNLICHEN GESELLSCHAFTLICHEN LABORATORIUM (wie den letzten Tagen des April 1945) testen solle. Schleef, der stets in schöpferischer Form Anliegen anderer, auch solcher, denen er vertraute, mißverstand, hatte dieses Konzept umgesetzt, indem er eine Reihe von POETISCHEN DEUTUNGEN GESELLSCHAFLICHER ZUSTÄNDE zu einer szenischen Operation brachte. Nach jeder der NUMMERN , die auf diese Weise entstanden, war ein Chor oder ein phantasmagorischer Umzug geplant. Diese Zwischenstücke hatte er fertig.
    Das, was sein Vertrauter, François Pérrier, ihm an Differenzmerkmalen zuspielte, entkleidete er des marxistischen Jargons. Er sprach von Tugenden und Lastern, von der Irrfahrt des Ulysses, von Einkehr ins Totenreich und Heimkehr auf die Insel; wobei, meinte er, man ebensogut sagen konnte: Heimkehr ins Totenreich und Einkehr auf der Heimatinsel, wenn doch die Isolierung die Insel, das Eigentum der Tod sind.
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    ICH: Herr Schleef, was bezeichnen Sie als Tugend?
    SCHLEEF: Das ist doch vollständig klar. Da gibt es doch gar keine Frage überhaupt.
    ICH: Und was wäre eine Tugend im Frühling 1945? Einem vom Wetter her übrigens herrlichen, unvergleichbaren Frühling. Alles ist hell und von Sonne verwöhnt, außer in den Nächten.
    SCHLEEF: Dann ist Nacht die Tugend.
    ICH: Sie verbirgt aber nichts. Radargeräte durchblicken die Nacht.
    SCHLEEF: Es gibt im Deutschen Reich praktisch kein Versteck mehr.
    ICH: Außer in den Höhlen des Harzes.
    SCHLEEF: Dann ist das die Tugend.
    ICH: Ist List eine Tugend? Intelligenz? Illusionslosigkeit?
    SCHLEEF: Dann kann einer ja gleich kapitulieren.
    ICH: Und das wäre nicht tugendhaft?
    SCHLEEF: Nicht im Sinne des Endkampfs.
    ICH: Halten Sie denn etwas vom Endkampf?
    SCHLEEF: Überhaupt nichts. Auf keinen Fall.
    ICH: Warum sprechen Sie dann von Tugenden, die zum Endkampf taugen?
    SCHLEEF: Weil Endkampf sonst nicht darstellbar ist. Es geht um eine dramatische Tugend,
    ICH: Eine Theatertugend?
    SCHLEEF: Jawohl. Jeder Charakter muß dieser Tugend widerstreben. Das ist der Mehrwert in der Dramatik.
    ICH: Wenn einer sich Vorteile verschafft zum Nachteil des Reiches für die Zeit nach der Kapitulation, wäre das mit Tugend vereinbar?
    SCHLEEF: Mit der Tugend des Mehrwerts ja, mit der Tugend des Endkampfs nein.
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    Man kann Schleefs Gedankenlinie nur der Unterströmung des Gesprächs, nicht der einzelnen Aussage entnehmen. Er erregte sich, er reckte den Oberkörper, sein Stottern verlagerte sich von Nebensätzen auf Hauptsätze, er wurde geduldig, alles das Indizien der Unterströmung, auch die Hauptworte, auch der Grad der Einwürfe. Das wußte ich. Es zeigte sich, daß er ein Bild in sich trug, über das er Fakten, Themen und Werte hin und her bewegte, wie durch Ebbe und Flut, ausgelöst durch die Gespräche mit François Pérrier (bei diesem hatte ich mich erkundigt). Mancher Gedanke gelangt so auf ein Riff und strandet.
    So lag Schleefs konvulsivischer Idee vom Endkampf im Frühling 1945 ein komplexes Bild zugrunde: eine besonders, ja extrem große Zahl GESELLSCHAFTLICHER VERHÄLTNISSE bewegt sich, als seien es Schlangen aus dem Paradies, scientes bonum et malum , durch ein wirres Geschehen von Zeitgeschichte. Wahr sind sie kraft Unvereinbarkeit.
    Schleef starb, ehe er das Projekt ENDKAMPF 1945 auf seine Weise abschließen konnte: einerseits mit dem Endkampf der Bauern bei Frankenhausen während der Bauernkriege und andererseits (von ihm extrem mißgünstig gesehen) mit dem Endkampf der DDR im November 1989. Danach wäre immer noch eine

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