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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Sozialausgaben, um diese als Attraktor für den Zuzug auszuschalten. Zugleich: eine Ankurbelung der Berliner Wirtschaft, vor allem des Produktionssektors, weil nur dieser fremde Menschen amalgamiert: Arbeit integriert. Das konnte sie aus Erkenntnissen über die Gründung der USA bestätigen.
    So hatte sie die Fakten auf ihren Zetteln notiert. Sie wollte sich dazu später noch zu Wort melden. Man hätte, sagte sie sich, Sarrazins Forderung erfüllen müssen. Falsch sei es dagegen, so nahm sie in ihrem erlernten Englisch später Stellung, die verkorkste Volkswirtschaft Berlins und auch die der Bundesrepublik mit Haushaltsmitteln zu stabilisieren. Das Unglück der Republik Hellas sei angerichtet worden durch Schlampigkeiten einer Oberschicht, eines politmerkantilen Klüngels, durch Korruption und nicht durch die Griechen selber. Ihnen, den Menschen, solle man helfen, nicht der Republik. Nach ihren Forschungen wurde nämlich der Staat Griechenland dem Osmanischen Reich, einem toleranten Vielvölkerstaat, widerrechtlich abgetrotzt. Sie ignorierte die Unruhe im Saal, welche darauf antwortete, daß ihre deutsch gedachten Worte nur schwer ins Englische zu übertragen waren. So fand sie keinen Ausdruck für den Satz: Hopfen und Malz seien verloren.
    Anatolien, fuhr sie fort, sei seit römischen Zeiten eine Provinz, die zum »Salz der Erde« gehöre. Die anatolischen Bauern seien gewiß nicht industrialisiert, aber keine Okkupation ihres Landes seit den Perserzügen habe sie je zähmen oder überfremden können. Noch immer gehörten sie als römische Provinz zur älteren Intelligenz. Das habe der Vortragende vielleicht nicht genügend betont. Ein ererbtes Intelligenzdefizit kenne sie, bezogen auf Anatolien, überhaupt nicht. An dieser Stelle verfiel sie ins Deutsche, so daß das Podium sie zwar verstand, der Saal aber fremde Worte hörte. Energisch baggerten die Dolmetscher in einer improvisierten Kabine gegen die Sprachbarriere an. Man hatte die Anlage und die Kopfhörer aus dem ursprünglichen Veranstaltungssaal hierhergeschafft.
    Sie war Philologin. Der Schuldienst lag schon Jahre hinter ihr. Noch bis tief in die Nacht hinein las sie, nach Hause zurückgekehrt, die Beschreibung des Ammianus Marcellinus über die anatolische Provinz um 362 n. Ch. im Original.
Tote am falschen Ort
    Jerusalem. Bei Bauarbeiten unterhalb des Felsendoms hatten Ingenieure einen Stollen freigelegt, der 300 Meter tief in den Berg hinabführte. Begierig nach Funden aus der Antike und gemäß ihrem Auftrag, der sich auf die Erkundung der Stabilität des Untergrundes bezog, betraten sie die Fläche, möglicherweise ein Artefakt aus früheren Phasen der Bauarbeiten Jerusalems, zu welcher der Stollen führte. Als sie sich mit ihrem Gerät in der unterirdischen Höhlung fortbewegten, stürzte der Boden ein, und sie fanden sich in einer zwölf Meter tiefen Grube wieder, von Gemäuer begraben. Noch waren die Handys intakt, und es gelang, von oben Hilfe zu organisieren.
    Die Tiefen des Tempelberges, berichteten die Geretteten, seien durchgängig mürbe. Von Aufbauten und Grabungen sei abzuraten. Was würde man in 500 Metern Tiefe, was in fünf Kilometern, was in 60 Kilometern Tiefe finden? Noch aus der Zeit des Statuts der britischen Besatzungsmacht waren Tunnelarbeiten unter dem Tempelberg ohne Genehmigung der palästinensischen Baubehörde verboten. Die Ingenieure hatten hier illegal gegraben. Wären sie bei ihrem Absturz umgekommen, hätte das Unternehmen, das sie ausgesandt hatte, eine Lügengeschichte erfinden müssen. Ihre Leichen wären nach Bergung an einen Ort transportiert worden, wo man das Unglück nachgestellt hätte.

    Abb.: Ägyptens antike Ruinen, die uns zur Besichtigung offenstehen, sind nur Stümpfe ihrer einstigen Gestalt, vom eigenen Schutt zugedeckt. Noch bis in die Zeit vor den Fatimiden waren sie mit poliertem Kalkstein verkleidet. Diese Außenhaut wurde abgebaut, weil das Material zur Errichtung der Moscheen von Kairo benötigt wurde.
Reise zu den Sternen
    In New York hat ein Grieche einen Jahrhundert-Fonds errichtet und bereits drei Millionen Dollar auf den Konten des Projekts versammelt. Im Verlauf von 100 Jahren soll mit dem bis dahin aufgebrachten Gegenwert von 100 Milliarden Dollar (in einer inflationsgesicherten Währung) eine Expedition zur nahen Sonne Gliese II , einem rötlichen, schwach leuchtenden Stern, den ein Planet umrundet, ausgerüstet werden. 38 Der Grieche, ehemals Reeder, jetzt Fondsgründer, hat das Vermögen

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