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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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er ausgesandt, im Flußdelta unten ein Fischwehr anzulegen. Den Befehl wird er vergessen haben, wenn er ihn nicht in der einen Hälfte seines Gehirns (der rechten) permanent wiederholt, die er nicht für die Leitung der emsigen Hand (er ist Rechtshänder) benötigt. Die linke Hemisphäre singt und handelt. Sie kontrolliert die rechte Hand, welche die Sträucher beiseite biegt; sie erspäht und erörtert durch kurze Sprechlaute (im Selbstgespräch) die aktuellen Gefahren der Umgebung. Die andere Seite seines Doppelhirns, die Langfristseite, bewahrt dagegen das göttliche Wort und den Auftrag. Nur diejenigen Clanmitglieder, welche diese Zweistimmigkeit in sich ausgebildet haben und dadurch gute Auftragnehmer und Kämpfer sind, werden gehegt und verpflegt und werden Nachkommen haben. Der Rest, der so etwas nicht vermag, ist in den vergangenen tausend Jahren verschwunden. Dies entspricht dem, was bei Rudolf Steiner ein MONDMENSCH genannt wird. Nach Etablierung dieser Mentaltechnik sieht die Welt, in der die Götter anwesend sind, so aus:
    In Sichtweite dessen, der auf dem Acker arbeitet, ist ganztägig das Heiligtum zu sehen. Der Zikkurat muß hoch gebaut sein in der Stadt. Oft kommt von dort ein Ton, der spätere Glockenton. Die Einheit von Boden, Atem, den Horizonten, dem Turm und der rechten (stummen) Hirnhälfte, die voller Musik und Gesumm der Götter ist: Das ist die Welt, bevor sich die Götter zurückzogen.
    Warum sind die Menschen nach dem Zerfall dieser frühen »Mentalität« nicht auf die Stufe der vorangehenden einfachen Stammesstruktur regrediert? fragt Julian Jaynes. Weil sie Gefangene ihrer Zivilisation sind, antwortet der ungarische Gelehrte mit Sitz in Harvard sich selbst. Anders gesagt: Nicht nur deshalb, weil die WELT DER ANWESENDEN GÖTTER ihnen lieb war, sondern weil inzwischen riesige Städte entstanden sind, gibt es keine Rückkehr zu irgendeiner simpleren Natur, auch nicht nach Ende des göttlichen Regiments. Nach dem Verschwinden der eigenen Könige und der Götter, nachdem nämlich Assur die Gemeinwesen und die Tempel verbrannt hatte, ergriffen Panik und Unentschlossenheit diese Menschen. Ihr Hirn wurde geflutet. Das ist die wahre Geschichte der Sintflut.
Wie zwei Hirnchirurgen in Gegenwart eines Deuters den Sitz der Götter auf der rechten Hirnseite ihrer Patienten entdeckten
    In der Zeit, in der Julian Jaynes lebhaft nach Beweisen für seine Theorie des DOPPELHIRNS suchte, waren die Hirnchirurgen Wilder Penfield und Phanor Perot ebenfalls in einer euphorischen Phase. Sie verfügten über ein Material von siebzig Patienten mit Epilepsie-Diagnose (und zwar bedingt durch Verletzungen im Bereich des vorderen Schläfenlappens) und konnten in kurzem zeitlichen Abstand bei der Vorbereitung für die operative Entfernung des geschädigten Gewebes die Hirnoberfläche in diesem Schläfenbereich mit einem leichten elektrischen Strom stimulieren. Der Reiz hätte, angewendet auf einen Daumen, ein leichtes Kribbeln hervorgerufen, war somit relativ schwach; sie vermieden es auch, die Stellen der vernarbten Sklerose- und Meningitisherde zu berühren, derentwegen die Epilepsie-Operation erforderlich war. Die Reaktionen in der rechten Hemisphäre waren markant.
    Jaynes war verblüfft und aufgeregt. Bei jeder der Reizungen war er als Deuter anwesend. Die Hirnchirurgen waren ja zunächst nur wie Kinder tätig, die mit einem Stock in einem Ameisenhaufen stöberten und »Reaktionen feststellten«. Er aber, der forscherische Ungar, wußte, was in Erscheinung treten würde und wonach zu suchen sei. Als ein knapp zwei Zentimeter langes Stück des vorderen »Balkens«, der den linken und den rechten Schläfenlappen verbindet (und bei Ratten und Hunden ein Geruchszentrum bildet), bei einer Frau gereizt wurde, blieb diese anfangs stumm, »um dann einen lauten Schrei auszustoßen«. Sie erklärte, sie habe Stimmen gehört und losgeschrien, weil sie ein durchdringendes, bis dahin nie gespürtes Gefühl empfunden habe. Die Empfindung habe in keines ihrer Sinnesorgane »gepaßt«. Es sei die Stimme eines Mannes gewesen, verschieden von der ihres Vaters, aber verknüpft mit ähnlicher Autorität. Eine andere der Personen hatte Musik, unbekannte Melodien gehört, die sie den Chirurgen vorsummen konnte. Bei Verlagerung der Reizung um einige Millimeter habe sie nur noch »ihre Mutter keifen gehört«. Ein weiterer Patient sprach davon, er habe einen Fluß gesehen, welchen, wisse er nicht; die Bewegung »flußabwärts« konnte er

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